ami
02/02


Bereits vor vierzehn Jahren leitete die damalige sowjetische Regierung einen Prozeß zur Reformierung der Streitkräfte ein. Deren augenfälligstes Ergebnis ist, daß die Zahl der Soldaten von über vier Millionen Mann der sowjetischen Streitkräfte auf rund eine Million in der russischen Armee reduziert wurde. Aber diese Veränderung ist weniger das Resultat einer bewußten Personalpolitik, sondern daß zwangsläufige Ergebnis des Zerfalls der Sowjetunion in Einzelstaaten. Kritiker werfen der Moskauer Militärführung vor, die Reform bewußt hintertrieben zu haben, um sich ihre persönlichen Pfründe zu sichern. Das Ergebnis ist, daß sich die Streitkräfte zu einem Haufen krimineller und unfähiger Soldaten entwickelt haben. Nun machte die Regierung von Wladimir Putin einen erneuten Versuch, dem Reformprozeß einen neuen Impuls zu geben, um den vorhandenen Militärkoloß in eine moderne Armee zu verwandeln. Mit nennenswerten Ergebnissen rechnet man in zehn Jahren. Dann soll die Truppe in eine Berufsarmee umgewandelt sein.

 

Russland: Armeereform im Schneckentempo

Die sogenannte Militärreform

Gerhard Piper

Die russischen Streitkräfte machen immer wieder Negativschlagzeilen: Es fehlt am Geld, das Militärgerät vergammelt, Nuklearmaterial verschwindet, die Generäle sind korrupt, die Soldaten mißhandeln sich gegenseitig, und nicht zuletzt der verbrecherische Krieg in Tschetschenien. Eine umfassende Streitkräftereform ist überfällig. Das militärische Ziel einer solchen Runderneuerung wäre der Aufbau kleiner, moderner und schlagkräftiger Einheiten, kündigte der neue Heereschef, Generaloberst Nikolai Korniltsev, an. Diese Truppen sollen amerikanischen Einheiten ebenbürtig sein und die strategischen Verbindungslinien im Südwesten Rußlands und in Zentralasien schützen. (1) Um Ressourcen freizumachen, damit dieses Ziel realisiert werden kann, soll gleichzeitig der Personalbestand der Streitkräfte von 1,2 Millionen Soldaten auf 835.000 Mann im Jahr 2003 reduziert werden. "Westliche" Militärexperten stellen das angekündigte Reformvorhaben in Frage, denn nach ihrer Einschätzung sei Rußland langfristig maximal in der Lage, 600.000 Soldaten zu unterhalten. (2)

Auch in Rußland wird zunehmend Kritik an der Militärreform laut, schließlich wurde die in ihrer ursprünglichen Fassung schon 1988/89 angestoßen. Beispielsweise wirft der russische Militärexperte Pavel Felgenhauer der Moskauer Militärführung vor, diese habe damals nur zum Schein eine Militärreform eingeleitet: "Während der ganzen 90er Jahre weigerten sich die Militärs, das riesige sowjetische Mobilmachungssystem für einen weltweiten Krieg abzuschaffen. Sie wollten die Fähigkeit aus der Sowjetära bewahren, 20 Millionen Leute zu rekrutieren und 100.000 Panzer ins Feld zu schicken." (3) Im Lauf der Jahre ist selbst der Begriff "Militärreform" (Voennaja Reforma) in Verruf geraten, so daß man heute lieber vom "militärischen Aufbau" (Voennoe Stroitelstwo) spricht. (4) So wird selbst die praktische Bedeutung der neuen Militärdoktrin (Voennaja Doktrina), die der Nationale Sicherheitsrat am 21. April 2000 per Dekret verabschiedet hatte, in Frage gestellt.

Haushaltsentwicklung

Die Finanzlage der russischen Streitkräfte ist prekär. Seit Jahren ist bekannt, daß die Armee viel zu groß ist, als daß mit den verfügbaren Geldmitteln ein "normaler Dienstbetrieb" finanziert werden könnte. So dürfen die Piloten der Luftwaffe pro Jahr nur 25 Stunden fliegen, weil mehr Treibstoff nicht vorhanden ist; bei der Marine sind 70 Prozent der Kriegsschiffe reif für die Werft. (5) Jetzt, im Winter, tobt in Rußland wieder ein "Stromkrieg". Weil die Streitkräfte ihre Strom- und Gasrechnung aus dem letzten Jahr in Höhe von 150 Mio. immer noch nicht beglichen haben, sperrten die privaten Energieunternehmen in mehreren Regionen den Militärs die Stromzufuhr: Archangelsk, im sibirischen Burjatien, im fernöstlichen Primorjegebiet und auf der Halbinsel Kamschatka. Nachdem dort der regionale Stromversorger Kamtschatskenergo zwanzig Militärstützpunkte vom Netz abgeknipst hatte, schickten die Kommandeure Kommandos los, um die Kraftwerke und Relais-Stationen mit Waffengewalt zu besetzen. Derweil hat die Militärführung in Moskau versprochen, im März oder April die offenen Rechnungen zu bezahlen. (6)

In diesem Jahr soll der offizielle Militärhaushalt von 231 Mrd. Rubel (2001) auf 262 Mrd. Rubel (2002) steigen. (7) Neben dieser reinen Finanzerhöhung soll durch eine Umschichtung im Militärhaushalt weiteres Geld verfügbar werden. Mit den Finanzmitteln, die durch die Truppenreduzierung bei den Personalkosten eingespart werden, soll dann die Modernisierung der Streitkräfte durch Einführung neuer Waffensysteme vorangetrieben werden. Geplant ist, den Anteil der investiven Ausgaben, der derzeit 33 Prozent des Militärhaushaltes (20% Waffenkäufe, 10% Forschung und Entwicklung, 3% Infrastrukturmaßnahmen) beträgt, weiter zu erhöhen. (8) Allerdings ist fraglich, ob diese Absichten in die Praxis umgesetzt werden können.

Modernisierung

Gemäß der Haushaltsplanung wollen die Streitkräfte in diesem Jahr den Beschaffungshaushalt auf 70 Mrd. Rubel erhöhen, was einer Erhöhung um 40% entspricht. Aber diese Steigerung ist nur auf den ersten Blick imposant, da ein Teil der Erhöhung durch die Inflation wieder aufgefressen wird, ein anderer Teil zur Subventionierung der Rüstungsbetriebe verwendet wird. Am Ende erhalten die strategischen Atomstreitkräfte in diesem Jahr nur sechs neue Interkontinentalraketen vom Typ Topol-M, für die Bodenstreitkräfte ist erst ab dem Jahr 2010 die Beschaffung neuer Waffensysteme vorgesehen, während den US-Streitkräften Finanzmittel in fast unbegrenzter Höhe zur Verfügung stehen. (9)

Selbst wenn man davon absieht, daß angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse die Finanzmittel eher in zivile Investitionen gesteckt werden sollten, scheint eine waffentechnische Aufrüstung kaum mehr möglich zu sein. Möglicherweise ist der Militärisch-industrielle Komplex (MIK) in Rußland bereits soweit heruntergewirtschaftet, daß die Rüstungsbetriebe kaum mehr in der Lage sind, neue Waffensysteme zu produzieren.

Zum Militärisch-Industriellen Komplex gehören rund 1.700 Rüstungsbetriebe. Viele stehen ohne Produktionsaufträge da und leben allein von Entwicklungs- und Exportaufträgen. Nach den Planungen des stellvertretenden Premierministers Ilya Klebanov vom Juli 2001 soll die Zahl der Rüstungsunternehmen endlich auf die Hälfte reduziert werden. (10) Eine umfassende Militärreform müßte schließlich auch den Bereich der Rüstungswirtschaft einschließen, denn wie Verteidigungsminister Sergey Ivanov erklärte, wurden in den letzten Jahren 60 Mrd. Rubel in die Entwicklung moderner Waffensysteme gesteckt, aber am Ende fehlte das Geld, um die neu entwickelten Waffen zu produzieren und bei den Streitkräften einzuführen. Einige russische Ökonomen vertreten gar die Auffassung, durch die Mißwirtschaft existiere der Militärisch-Industrielle Komplex nur noch auf dem Papier; um ihn wiederzuleben, wären Investitionen von schätzungsweise 600 Mrd.$ notwendig. (11)

Personalbestand

Trotz der Beschaffungsprobleme bei modernen Waffensystemen ist die Russische Föderation nach wie vor hoch gerüstet: Unter den vierzehn verschiedenen "bewaffneten Staatsorganen" haben allein die Streitkräfte eine Nominalstärke von 1,2 Millionen Planstellen, während ihre tatsächliche Stärke immerhin 950.000 Soldaten umfaßt. (12) Am 9. November 2000 beschloß der Nationale Sicherheitsrat unter dem Vorsitz von Präsident Putin, die Soll-Stärke der Armee von 2001 bis zur Jahreswende 2003/04 um 365.000 Soldaten und 120.000 Zivilbedienstete zu verringern, so daß ihr Umfang zukünftig bei 835.000 Soldaten liegen würde. (13) Damit ergebe sich eine echte Reduzierung um 115.000 Mann.

Auf die einzelnen Teilstreitkräfte aufgeteilt, ergibt sich ungefähr folgende nominale Reduzierung: Heer -180.000, Luftwaffe und Luftverteidigung -40.000, Marine -50.000 sowie Strategische Streitkräfte -80.000 Soldaten. Bei den Planstellen werden folgende Kürzungen vorgenommen: -400 Generäle und Admiräle, -80.000 Offiziere mit Generalstabsausbildung (Major bis Oberst), -160.000 sonstige Offiziere (Unterleutnant bis Hauptmann), -125.000 Unteroffiziere und Mannschaften. Allein im letzten Jahr sollten gemäß der Planung 250.000 Planstellen gestrichen werden, der Rest in diesem und im kommenden Jahr. (14)

Soziale Lage der Soldaten

Bei der Militärreform steht nicht der einzelne Soldat, sondern die Armee als Ganzes im Vordergrund. Daher kommen die durch den geplanten Personalabbau eingesparten Gelder nur zum Teil den verbleibenden Soldaten zu gute. Zunächst hatte das Verteidigungsministerium selbst sogar ausdrücklich darauf bestanden, das diese Finanzmittel nicht dazu verwendet werden, das Einkommen der verbleibenden Soldaten zu erhöhen, obwohl die Offiziere in den Streitkräften den geringsten Offizierslohn unter allen Staatssicherheitsorganen erhalten. Die Militärführung befürchtete, jede Solderhöhung würde nur durch Einsparungen an anderer Stelle finanziert werden. Diese Umverteilung würde aber zu Lasten der Soldaten gehen, die bisher bestimmte Privilegien in Anspruch nehmen können: Steuerbefreiung, verbilligte Telefongebühren, kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel etc. Zudem würde jegliche Solderhöhung durch die Inflationsrate von 20 Prozent aufgefressen werden. (15)

Nun hat man sich darauf geeinigt, daß die Soldaten ab dem 1. Januar 2002 eine minimale Gehaltserhöhung von 15 Prozent erhalten, was gemäß der Inflationsrate einem Reallohnabbau gleichkommt. Außerdem erhalten bestimmte Soldaten eine Erschwerniszulage für gefährlichen Dienst. Für den 1. Juli 2002 hat die Militärführung eine weitere Verbesserung versprochen, weil ab diesem Zeitpunkt der Militärsold dem besseren Gehalt der Zivilbeschäftigten in den Streitkräften angepaßt wird. Diese angekündigte Erhöhung wird wiederum dadurch gedämpft, daß dann die Soldaten Einkommenssteuer und Miete für ihre Dienstwohnung bezahlen müssen. (16)

Dabei ist die soziale Lage der Militärangehörigen unverändert schlecht. Rund 49 Prozent der Offiziersfamilien leben unter der offiziellen Armutsgrenze. Ein gravierendes Problem stellt weiterhin die Wohnungsnot dar: 42.500 Soldatenfamilien warten auf die Zuteilung einer Dienstwohnung, fast 97.000 Familien haben zwar eine Dienstwohnung, sind aber mit deren Größe und Zustand vollkommen unzufrieden, 164.000 der in den letzten Jahren ausgeschiedenen Soldaten haben zwar Rechtsanspruch auf eine Pensionärswohnung, bekommen aber trotzdem keine gestellt. (17) Dabei ist eine Verbesserung der sozialen Lage der Soldaten eine Grundvorsetzung dafür, um beim Übergang zu einer Berufs- und Freiwilligenarmee auf ausreichend Bewerber für die offenen Stellen zurückgreifen zu können.

Kein Ende der Wehrpflicht

Angesichts der geplanten Personalreduzierungen stellt sich die Frage, ob die russischen Streitkräfte nicht in eine Berufs- und Freiwilligenarmee umgewandelt werden sollten. Der bisherige Wehrdienst von zwei Jahren Dauer ist bei den Rekruten in höchstem Maße unpopulär. In einer Meinungsumfrage unter jugendlichen Männern vom Frühjahr 2001 lehnten 35 Prozent den Wehrdienst rigoros ab, weitere 33 Prozent meinten, ihre Einstellung hänge sehr davon ab, wohin man eingezogen wird und mit wem man dort zusammenkommen würde. (18) Den Einberufungstermin im Herbst 2000 verweigerten gleich 20.000 Fahnenflüchtige. (19)

Darüber hinaus stellen sich rund 60 Prozent der Wehrpflichtigen bei der Musterung nach Angaben von Generalstabschef Valery Kulikov als untauglich heraus. (20) Von den restlichen Jugendlichen, die ihren Militärdienst tatsächlich antreten, sind zehn Prozent kriminell, 12 Prozent drogenabhängig, 13 Prozent psychisch gestört. (21) Rund die Hälfte war vor ihrem Dienstantritt arbeitslos, viele hatten noch nie einen Job. Zahllose Wehrpflichtige haben nicht genügend Geld, um bei korrupten Amtsärzten eine medizinische Untauglichkeitsbescheinigung erstehen zu können, so daß diese gezwungen sind, unterzutauchen oder ihren Wehrdienst doch anzutreten. (22)

Sind die Rekruten dann in ihren Militäreinheiten angekommen, fürchten die Neuen die Schikanen durch ältere "Kameraden", was unter dem Namen Dedowtschina bekannt ist. Während der Generalstaatsanwalt der Streitkräfte die Zahl der jährlichen Todesopfer mit 2.000 Soldaten angibt, sind es nach Angaben der Komitees der Soldatenmütter 5.000 Mordopfer innerhalb der Armee. (23) Dazu zählen auch die erschossenen Deserteure: Im Juli 2001 erschossen zwei Deserteure bei Rostov sechs andere Soldaten; bei Kaliningrad ermordeten mehrere Fahnenflüchtige fünf Menschen auf einem Bauernhof. (24) Wieviele Wehrdienstverweigerer jedes Jahr auf der Flucht erschossen werden, ist nicht bekannt.

Während der ehemalige Staatspräsident Boris Jelzin am 16. Mai 1996 mit der Dienstanweisung Nr. 722 angeordnet hatte, daß zukünfig keine Wehrpflichtigen mehr in Kriegsgebieten eingesetzt werden dürfen, (25) wurde dieser Ukas von seinem Amtsnachfolger Putin Ende 1999 wieder aufgehoben. In Tschetschenien führen die russischen Streitkräfte einen Vernichtungsfeldzug gegen die heimische Bevölkerung. Immer wieder machen die Soldaten sogenannte "Säuberungsaktionen", bei denen sie die Dorfbewohner ausplündern und junge Männer verschleppen, die dann in Konzentrationslagern "verschwinden". Bisher haben die russischen Justizbehörden 358 Ermittlungsverfahren gegen die eigenen Militärs in Tschetschenien eingeleitet, aber noch in keinem Fall ist es zu einer Verurteilung gekommen. (26) Auch unter den russischen Soldaten hat es tausende Tote und Verletzte gegeben.

Schon 1996 hatte der damalige Präsident Boris Jelzin im Wahlkampf eine Abschaffung der Wehrpflicht in Rußland bis zum Jahr 2000 versprochen. Mit der beabsichtigten Personalreduzierung der Streitkräfte auf eine Ist-Stärke von 835.000 Soldaten werden die Streitkräfte entgegen der ursprünglichen Absicht immer noch nicht zu einer Berufs- und Freiwilligenarmee umgewandelt. Vielmehr werden die Streitkräfte zukünftig zu zwei Dritteln aus Berufs- und Zeitsoldaten bestehen. Über die aktuelle Zahl der Wehrpflichtigen gibt es keine zuverlässigen Angaben. Sie wird unterschiedlich mit 400.000 bis 600.000 angegeben und soll auf schätzungsweise 278.000 sinken. (27) Erst nach und nach sollen die Streitkräfte bis zum Jahre 2010 auf eine Berufsarmee umgestellt werden. (28) Für eine Abschaffung der Wehrpflicht sind die angekündigten Personalreduzierungen zu klein, sie reichen lediglich, um "Wasserköpfe" in den Einheiten abzubauen. (29)

Demgegenüber hält die Reformpartei "Union der Progressiven Kräfte" (SPS) von Boris Nemtsov und Yegor Gaydar an einer Abschaffung der Wehrpflicht fest. Sie präsentierte im Dezember 2001 einen eigenen Reformvorschlag, der von Oberst a. D. Vitaliy Tsymbal vom "Institut für die Ökonomie der Transformationsperiode" ausgearbeitet worden war. Danach soll bis zum Ende 2004 die Wehrpflicht abgeschafft werden. Bis dahin soll ein sechsmonatiger Militärdienst als "Schnupperkurs" angeboten werden, um genügend Freiwillige für die Streitkräfte anwerben zu können. (30)

Die russische Bevölkerung ist prinzipiell für die Abschaffung der Wehrpflicht. Gemäß einer Umfrage des Moskauer Meinungsforschungsinstitutes VTsIOM vom Februar 2000 sprachen sich 63 Prozent der Befragten für eine Freiwilligen bzw. Berufsarmee aus, demgegenüber wollten nur 30 Prozent die allgemeine Wehrpflicht beibehalten. Dieses Ergebnis konnte nicht überraschen, schließlich sagten 75 Prozent der Befragten, sie wären dagegen, wenn jetzt ein naher Verwandter Militärdienst leisten sollte. (31)

Die russische Generalität wehrt sich bisher gegen die Abschaffung der Wehrpflicht. Sie hat dafür weniger militärische als vielmehr private Gründe, weil sie damit ihre Pfründe einbüßen würde. (32) Viele Generäle profitieren finanziell davon, daß sie wehrpflichtigen Rekruten eine Untauglichkeitsbescheinigung besorgen. Außerdem ist es üblich, daß Soldaten ihre Militärzeit damit zubringen, für die Generäle private Datschen zu bauen. Daher wehrt sich die Generalität dagegen, wenn diese kostenlosen Bauleistungen abgeschafft werden, und die Soldaten stattdessen militärische Kenntnisse erwerben. Bei einer Professionalisierung der Streitkräfte durch Abschaffung der Wehrpflicht müßte parallel das militärische Niveau der Generalsausbildung ansteigen, dies aber würde einige Generalsanwärter überfordern. (33) Selbst der amtierende Verteidigungsminister Sergey Ivanov, ein früherer Spionagegeneral des KGB, wird von manchen Kritikern als militärisch inkompetent eingeschätzt. (34)

Recht auf Kriegsdienstverweigerung

Die Verfassung der Russischen Föderation von 1993 gewährt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. In Artikel 59 heißt es: "Bürger der Russischen Föderation, deren Überzeugungen oder Glauben mit dem Militärdienst unvereinbar sind, und in anderen Fällen, die vom Gesetz vorgesehen sind (z. B. familiäre Umstände, G.P.), sollen das Recht haben, den Militärdienst durch einen alternativen Zivildienst zu ersetzen." (35) Allerdings scheiterte die praktische Wahrnehmung dieses Grundrechts bisher am völligen Fehlen eines alternativen Zivildienstes. Liberale Politiker rechnen damit, daß bei Einführung eines Zivildienstes rund 50 Prozent der Rekruten den Militärdienst verweigern könnten und durch den Zusammenbruch des Rekrutierungssystems dann die Einführung einer Berufsarmee schnell notwendig werden könnte. (36)

Der Duma wurden am 16. März 2001 zwei Gesetzesentwürfe vorgelegt. Der erste, liberale Antrag wurde gemeinsam von Yuli Rybakov von der Union Rechtsgerichteter Kräfte und General a. D. Eduard VoroŽbev eingebracht. Danach sollte eine explizite "Gewissensprüfung" entfallen, der Zivildienst mit drei Jahren ein Jahr länger als der Militärdienst sein, aber die ZDLer heimatnah eingesetzt werden. Um eine Zustimmung der Duma zu diesem Entwurf zu verhindern, brachte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, General a. D. Andrei Nikolayev, einen eigenen Gesetzesvorschlag ein. Danach soll eine umfassende Gewissensprüfung eingeführt werden, der Zivildienst ganze vier Jahre dauern und der Kriegsdienstverweigerer an jedem beliebigen Ort in Rußland eingesetzt werden können. (37) Allein durch die Tatsache, daß Nikolayev einen zweiten Entwurf eingebracht hatte, wurden umfassende parlamentarische Diskussionen notwendig, und so konnte die längst überfällige Verabschiedung eines Zivildienstgesetzes bis heute hinausgezögert werden. Die Gesetzesvorlagen waren Gegenstand der Kabinettssitzung in der letzten Januarwoche 2002. (38)

Nachdem 1999 die Menschenrechtsorganisation Memorial in der Stadt Perm erstmals ein "Experiment" startete und sieben Kriegsdienstverweigerern vorübergehend die Möglichkeit einer gemeinnützigen Arbeit bot, (39) setzte sich nun der Bürgermeister von Nischni Nowgorod, Juri Lebedew, über die bestehende Gesetzeslage einfach hinweg. In kommunaler Eigenregie schuf er beim Ersten Städtischen Krankenhaus die ersten russischen Arbeitsstellen für Zivildienstleistende. Von den 9.885 Rekruten in der Stadt stellten 60 einen Antrag auf Zivildienst, davon sprachen nur 15 Jugendliche persönlich bei der Krankenhausverwaltung vor. (40) Die ersten beiden russischen Kriegsdienstverweigerer, Wladimir und Wsewolod, haben ihren Zivildienst angetreten. Chefarzt Waleri Lipatow ist mit seinen "Zivis" zu frieden: "Bei der Personalknappheit brauche ich jeden Mann, und die Jungs gehen gut zur Hand." Aber jetzt ermittelt der Staatsanwalt gegen Bürgermeister Lebedew. (41)

Reformstau

Die derzeitige Militärreform wurde bereits vom damaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Michail Gorbatschow, in den Jahren 1988/89 eingeleitet. In den Machtkämpfen zwischen Regierung, Generalstab und Geheimdiensten, sowie den verschiedenen Fraktionen innerhalb des Militärapparates, ist die Reform seitdem immer wieder zerrieben worden. Am 10. November 2001 protestierten namentlich nicht genannte Generäle und Admiräle in einem offenen Brief an die Regierung und das Parlament gegen den ganzen Reformprozeß in Rußland und die Militärreform im Besonderen. (42) Der seit dem 28. März 2001 amtierende Verteidigungsminister Sergey Ivanov versuchte sich als Mittler zwischen der politischen Führung im Kreml und der konservativen Militärspitze im Generalstab, geriet aber zwischen alle Stühle und wurde wiederholt wegen seiner militärpolitischen Stellungnahmen vom Kreml abgemahnt. (43)

Kritik an den Reformmaßnahmen war in den vergangenen Jahren auch aus militärischer Sicht nur zu berechtigt. Wiederholt hatte es divergierende Impulse gegeben: Erst vor ein paar Jahren wurden im Rahmen der Militärreform rund 100.000 Offiziere entlassen, die nach Meinung der Armeeführung jetzt fehlen. (44) Bei den Bodenstreitkräften wurde das 1998 aufgelöste Oberkommando im letzten Jahr unter dem Kommando von Generaloberst Nikolai Kormiltsev erneut eingerichtet. Die Einheiten der Weltraumkriegführung und Weltraumverteidigung wurden 1998 erst miteinander und dann auch noch mit den Strategischen Raketentruppen verschmolzen. (45) Am 1. Juni 2001 wurden die Weltraumtruppen wieder aus den Raketenstreitkräften herausgelöst und bilden seitdem ein eigenes Kommando unter der Führung von Generaloberst Anatoly Perminov. (46) Der Kommandeur der Strategischen Raketenstreitkräfte General Vladimir Yakovlev sah darin eine Beschneidung seiner Kompetenzen. Als er protestierte, wurde er im April 2001 durch General Nikolai Solovstsov ersetzt. (47)

Viele Offiziere, die die Reformmaßnahmen berechtigterweise kritisiert hatten und deswegen abgekanzelt wurden, schlagen zurück. Der verantwortliche Generalstabschef Anatolyi Kvashin, der sich bisher innerhalb der Militärcliquen behaupten konnte, wird jetzt von früheren "Weggefährten" angegriffen. So erklärte Generaloberst Leonid Ivashov, der früher die Hauptabteilung für Internationale Beziehungen im Verteidigungsministerium leitete und letztes Jahr auf den Posten des Vizepräsidenten der Akademie für Geopolitische Probleme abgeschoben wurde: "In den letzten zwei Jahren gab es eine Kampagne zur Säuberung des Verteidigungsministeriums und der bewaffneten Streitkräfte von all jenen militärischen Führern, die ihre eigene Auffassung von den Problemen der Militärreform hatten. Diese Sichtweise war anders als die des Generalstabs, aber diese Leute waren in der Lage, ihre Meinungen zu verteidigen und sich nicht in irgendwelche Intrigen hineinziehen zu lassen. Heute hat sich ihre Meinung durch die praktischen Erfahrungen als richtig herausgestellt, aber wie es heißt, sind sie nicht mehr im Amt." (48)

Auch am amtierenden Regierungschef Vladimir Putin wächst die Kritik. Zwar wird ihm ein stärkeres Durchsetzungsvermögen innerhalb des russischen Staatsapparates bescheinigt als seinem trinkfreudigen Amtsvorgänger, aber auf außenpolitischem Parkett erleidet Putin eine Niederlage nach der anderen. Von Seiten der russischen Opposition und militärischen Kreisen in Moskau wird ihm ein Ausverkauf der nationalen Interessen gegenüber dem "Westen" vorgeworfen. So konnte sich der Kremlchef weder bei der Rüstungskontrolle im Bereich der strategischen Atomwaffen, noch beim ABM-Vertrag gegenüber den USA durchsetzen. Den Widerstand gegen eine NATO-Osterweiterung hat er nahezu aufgegeben. Präsident Putin läßt russische Militärbasen auf Cuba (Lourdes) und in Vietnam (Camp Ranh Bay) schließen, während gleichzeitig die US-Streitkräfte dabei sind, in der früheren Sowjetrepublik Usbekistan einen permanenten Militärstützpunkt zu errichten. Dadurch könnte Rußland in Zentralasien und dem Nahen Osten erheblich an Einfluß verlieren. (49)

Bei einer russischen Meinungsumfrage vom Februar 2001 zeigte sich, daß 34 Prozent der Befragten die USA immer noch als den wichtigsten Feind Rußlands betrachteten. Außerdem ist unter der russischen Bevölkerung das Gefühl politischer Isolierung stark ausgeprägt: 35 Prozent waren der Meinung, ihr Staat sei mit keinem anderen Land befreundet, weitere 31 Prozent wollten zwar nicht ausschließen, daß Rußland in der Welt "Freunde" habe, konnten aber ebenfalls kein solches Land benennen. (50)

Zwischenbilanz

Der größte Erfolg der langwierigen, russischen Militärreform besteht darin, daß man sie noch nicht völlig aufgegeben hat, sondern nur den Begriff "Voennaja Reforma" opfern mußte. Die Beschreibungen über den Zustand innerhalb der russischen Armee haben sich in den letzten Jahren kaum verändert, allerdings erregen sie nicht mehr in dem Maße die Öffentlichkeit, wie dies früher der Fall war. Nur gelegentlich, wenn ein U-Boot mit Mann und Maus absäuft und das Chaos für jedermann sichtbar wird, füllt die einstige Arbeiter- und Bauernstreitmacht noch die Schlagzeilen.

Nicht das Ende des Kalten Krieges kann für den Niedergang der russischen Armee verantwortlich gemacht werden, denn auch in anderen Ländern mußten sich die Streitkräfte dem erhöhten Legitimationsdruck stellen und Truppenreduzierungen verkraften. Die Finanzknappheit mag in Rußland gravierender sein als in den reichen Ländern des Westens, aber dennoch waren auch in Rußland Milliardenbeträge im Militärhaushalt zum Vergeuden übrig.

Vielmehr ist der Zerfall der russischen Armee ein Musterbeispiel dafür, wie eine Streitmacht von der eigenen Generalität ruiniert werden kann, wenn diese ihre privaten Pfründe über die Interessen des Staates stellt. Glücklicherweise ist in den letzten Jahren auch die Zahl dieser schmarotzenden Lamettaträger nach und nach gesunken. Aber das entscheidende Problem lautet heutzutage nicht mehr, wozu Rußland eine Armee braucht und wie sie aussehen soll, sondern es stellt sich die Frage: Wie lange hält das russische Militär noch seine Militärreform aus? Die Regierung Putin plant eine nennenswerte Modernisierung und Professionalisierung der Streitkräfte erst in acht oder neun Jahren; Putin ist entweder Diktator oder Optimist.

 

Gerhard Piper ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).

 

Quellen:

(1) N.N., Commander says Russia will reduce its military to one million troops this year, Associated Press, 3./4.1.2002.

(2) Hannes Adomeit: Russische Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter Putin, SWP, Ebenhausen, September 2000, S. 131.

(3) Vladimir Isachenkov, Putin's plan to revamp a troubled military faces stiff resistance from top brass, AP, 30.12.2001.

(4) Hannes Adomeit, a.a.O., S. 130f.

(5) Vladimir Isachenkov, a.a.O..

(6) Jens Hartmann, Marinebasen, Flugplätze und Weltraum- Kontrollstation vom Netz genommen, Berliner Morgenpost, 1.2.2002, S. 5.

(7) Ein US-Dollar hatte 2001 einen Umtauschwert von 28,9 Rubel. Alexander Golts, Battle begins over Russia's defense budget cash, The Russia Journal, 6.7.2001, www.russiajournal.com/printer/ weekly4876.html. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß die offiziellen Angaben und die "westlichen" Schätzungen über die realen Ausgaben (kaufkraftbereinigt) stark divergieren.

(8) International Institute for Strategic Studies (IISS), Military Balance 2001/2002, Oxford, Oktober 2001, S. 110.

(9) N.N., No Big Chances planned in size of Russian Arms Budget, Jamestown Foundation Monitor, 23.1.2002.

(10) Guy Chazan, Russia to reduze Weapons Producers in a bid to streamline Defense Sector, Wall Street Journal, 31.7.2001.

(11) Alexander Golts, Old treaties or wages? The Russia Journal, 18.1.2002.

(12) N.N., Russland: Keine Umwandlung der Streitkräfte in eine Berufsarmee, Soldat und Technik, 10/2000, S. 659.

(13) Pavel Felgenhauer, A Reform that doesn't hurt, Moscow Times, 16.11.2000.

(14) N.N., Russian Defence Ministry sources outlines radical armed forces' cuts this year, Interfax., 25.1.2001.

(15) Alexander Golts, Battle begins over Russia's defense budget cash, Russia Journal, 6.7.2001.

(16) Alexander Golts, Old treaties or wages? The Russian Journal, 18.1.2002.

(17) Vladimir Galaiko, A stone rolling down the mountain - Still trying to make sense of Russia's military reforms, Versty, 22.2.2001.

(18) N.N., Who will serve in the Russian Armed Forces?, Rossia Nr. 18, Mai 2001.

(19) N.N, Russian army launches spring call-up, AFP, 1.4.2001.

(20) N.N., More than half of Russians unfit to serve in army, AFP, 1.12.2001.

(21) Vladimir Shtol, Streitkräftereform in Russland, Europäische Sicherheit, 4/2001, S. 13.

(22) Der Preis für eine der begehrten Untauglichkeitsbescheinigungen schwankt - je nach Vermögenslage - zwischen 2500 und 10000 US-Dollar. Siehe: Jon Boyle, Russian youth shuns army draft, Reuters, 10.12.2001.

(23) Hannes Adomeit, a.a.O., S. 45.

(24) N.N., Come on, Look like Soldiers, Economist, 14.7.2001.

(25) Hannes Adomeit, a.a.O., S. 47.

(26) Sharon LaFraniere, Russians Accused of Abuses in Chechnya, Washington Post, 22.1.2002, S. 10.

(27) N.N., Russland: Keine Umwandlung der Streitkräfte in eine Berufsarmee, Soldat und Technik, 10/2000, S. 659; Pavel Felgenhauer, Battle for Choice Heats Up, Moscow Times, 31.1.2002.

(28) Andrew Jack, Russia seeks more parity with Nato, Financial Times, 22.11.2001.

(29) Vadim Saranov, Something needs to be done about Russia's diverse security structures, Versiya, 11.12.2001.

(30) Maksim Glinkin, Major Clash Shaping Up Between Rightest Politicians and Military Chiefs on Military Reforms, Obshchay Gazetal, 13.12.2001.

(31) Hannes Adomeit, a.a.O., S. 48f.

(32) Im Dezember 2000 wurde der Finanzchef im Verteidigungsministerium Generaloberst Grigory Oleinik entlassen, nachdem durch Finanztransaktionen ein Schaden von rund 500 Millionen US-Dollar entstanden war. Siehe: Alexander Golts, Blaming generals masks military's deeper problems, The Russia Journal, 23.12.2000.

(33) Maksim Glinkin, Major Clash Shaping Up Between Rightest Politicians and Military Chiefs on Military Reforms, Obshchay Gazetal, 13.12.2001.

(34) Alexander Golts, Battle begins over Russia's defense budget cash, The Russia Journal, 6.7.2001

(35) Russische Verfassung, zit.n.: Sergey Syrov, Human Rights Leaders Present Alternative Military Service, Gazeta.ru, 15.3.2001.

(36) N.N., Russian Generals Defend Conscript Army to the Last, dpa, 31.1.2002.

(37) N.N., Russian Defense Chiefs said to be blocking key military legislation, Jamestown Foundation Monitor, 22.3.2001.

(38) Pavel Felgenhauer, Battle for Choice Heat Up, Moscow Times, 31.1.2002.

(39) Christopher Steinmetz, Alternativen zum Wehrdienst in Rußland, Illoyal, Nr. 11, S. 33.

(40) N.N., Alternative service introduction to have no effect on number of dodgers, Interfax, 7.12.2001.

(41) Jens Hartmann, Die ruhmreiche Rote Armee wird zum Pflegefall, Welt, 1.2.2002, www.welt.de/ daten/2002/01/30/ 0130eu310997.htx

(42) Vadim Solovyev, Generals go into opposition to the Kremlin, Nezavisimaya Gazeta, 13.11.2001.

(43) N.N., Russian defence chief's contradictory statements aim to avoid conflict, Nezavisimaya Gazeta, 21.12.2001.

(44) N.N., Russia: Military Reform failing, Interview mit Generaloberst Leonid Ivashov, Nezavisimaya Gazeta, 18.12.2001.

(45) Hannes Adomeit, a.a.O., S. 130.

(46) IISS, a.a.O., S. 106.

(47) Peter Baker, Putin Ousts Rocket Chief, Washington Post, 28.4.2001.

(48) N.N., Russia: Military Reform failing, Interview mit Generaloberst Leonid Ivashov, Nezavisimaya Gazeta, 18.12.2001.

(49) Guy Chazan, Putin's Diplomacy Causes Fear in Russia of Making too many Concessions to U.S., Wall Street Journal, 19.11.2001. Für ihren Krieg gegen Afghanistan haben die USA ihre Streitkräfte z. Zt. auf folgenden Basen stationiert: Khanabad und Kokaida (Usbekistan), Dushanbe und Kulyab (Tadschikistan) und in Mana (Kirgisien). Siehe: Mikhail Khodaryonok, Big Brother Dumped for $1 Billion, Nezavisimaya Gazeta, 30.1.2002.

(50) Avtandil Tusladze, Russia turns out to have more Enemies than Friends, Segodnya, 15.3.2001.

Quelle: antimilitarismus information (ami), Berlin, Februar 2002, S. 5-15