Blätter für deutsche und internationale Politik
Juli 2003


Russlands neue Rolle im transatlantischen Beziehungsgeflecht

  Manfred Schünemann

Der Irak-Konflikt und besonders die völkerrechtswidrige Militäraktion der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak verdeutlichten erneut das Grundproblem der russischen Außenpolitik seit dem Zerfall der Sowjetunion, die Einordnung Russlands in das internationale Beziehungsgefüge und seine Rolle in der Weltpolitik. Vor dem Hintergrund der Differenzen zwischen den USA und westeuropäischen Staaten, insbesondere Frankreich und Deutschland, über das Vorgehen im Irak-Konflikt war die Haltung Russlands vor allem darauf gerichtet, die bestehenden völkerrechtlichen Normen und internationalen Mechanismen zur Konfliktvermeidung und -regulierung zu erhalten, um dadurch eigene Mitspracherechte in den internationalen sicherheitspolitischen Angelegenheiten zu bewahren. Zugleich war die russische Führung bemüht, die Grundlagen der sicherheitspolitischen Partnerschaft sowohl mit den USA als auch mit Westeuropa nicht zu gefährden. Ausgehend davon trat Russland für die bedingungslose und unverzügliche Erfüllung aller Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zur Abrüstung durch den Irak sowie für die Kontrolle der Erfüllung aller UN-Auflagen durch die internationalen Inspektoren ein und sprach sich auch nach der Annahme der Resolution 1441 des UN-Sicherheitsrats vom November 2002 gegen die Anwendung militärischer Gewalt aus. Ein von den USA angestrebter Regimewechsel im Irak wurde aus grundsätzlichen Erwägungen (Legitimierung von Einmischungen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten; Bewahrung des geltenden Völkerrechts) abgelehnt. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen den USA und Großbritannien einerseits und Deutschland und Frankreich andererseits über das weitere Vorgehen in der Irak-Frage und die Rolle der Vereinten Nationen entschied sich die russische Führung – nicht zuletzt auf Grund des engen persönlichen Verhältnisses zwischen Präsident Putin und Bundeskanzler Schröder – für eine Unterstützung des "europäischen" Standpunktes und bestärkte durch seine Veto-Androhung gegen eine militärische Gewaltanwendung legitimierende Resolution die Haltung Frankreichs und Deutschlands im UN-Sicherheitsrat.

Entgegen den Erwartungen vieler Beobachter beharrte Russland auch nach Beginn des Kriegs gegen den Irak auf seinen Grundpositionen und verurteilte – trotz des Risikos, dadurch die sicherheitspolitische Partnerschaft mit den USA in Frage zu stellen – die Militäraktion der USA und ihrer Verbündeten als Verletzung des geltenden Völkerrechts. Unmittelbar nach Kriegsbeginn erklärte Präsident Putin: "Diese Militäraktion lässt sich mit nichts rechtfertigen – weder mit der Anschuldigung, Irak unterstütze den internationalen Terrorismus, noch mit der Absicht, in diesem Land das politische System zu verändern, was direkt dem Völkerrecht widerspricht".[ 1 ] Hintergrund dafür war die Absicht Russlands, durch die Regelung des Konflikts auf der Basis der Charta und im Rahmen der Vereinten Nationen sowohl die russischen Interessen bei der Gestaltung der Nachkriegsordnung im Irak als auch seine Rolle bei der Regulierung internationaler Konflikte zu sichern. "Das Wichtigste unserer Position ist", so betonte der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Sergej Lawrow, "dass in jedem Falle die Prärogative der jetzigen Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats nicht verloren gehen".[ 2 ] Zugleich signalisierte die russische Führung der Bush-Administration, dass Russland an der Zusammenarbeit mit den USA bei der internationalen Terrorismusbekämpfung festhält und zu Kompromissen hinsichtlich der Gestaltung der Nachkriegsordnung im Irak bereit ist, ohne allerdings die zentrale sicherheitspolitische Verantwortung der UNO aufzugeben. "Was Irak betrifft", erklärte Russlands Außenminister Igor Iwanow, "so sollten wir die Aufmerksamkeit nicht auf die Meinungsverschiedenheiten richten, die es (mit den USA) gab, sondern auf die Bemühungen zur gegenseitigen Verständigung über eine zu erarbeitende Resolution des UN-Sicherheitsrates mit dem Ziel, die internationalen Bemühungen im Interesse des irakischen Volkes zu vereinigen".[ 3 ] Mit dieser größeren Flexibilität in der außenpolitischen Haltung reagierte Russland auf das Aufbrechen der substantiellen Widersprüche in den transatlantischen Bündnisbeziehungen und versuchte zugleich der Gefahr zu begegnen, das in den letzten Jahren erreichte Niveau der Einbindung in die europäischen und transatlantischen Integrationsstrukturen zu gefährden und den dadurch errungenen außenpolitischen Handlungsspielraum wieder zu verlieren.


Außenpolitische Realitäten und pragmatische Entscheidungen

Das russische Vorgehen im Irak-Konflikt hat vielfältige Gründe. Ein wesentlicher Aspekt ist die Tatsache, dass sich mit dem Ende des Kalten Kriegs, dem Zerfall der UdSSR und dem Zusammenbruch des von der Sowjetunion dominierten Ostblocks sowie der tiefen inneren Gesellschaftskrise die internationale Rolle Russlands auf den Status einer Regionalmacht reduzierte, die einzig durch das Kernwaffenpotential und die Veto-Rechte im UN-System sicherheitspolitisch gleichrangig mit den USA blieb. Durch den pragmatischen Kurs Präsident Putins zur partiellen Einbindung Russlands in die westlichen Bündnisstrukturen gelang es in den letzten Jahren, die internationalen Positionen Russlands wieder zu festigen und den außenpolitischen Handlungsspielraum zu erweitern. Trotz zum Teil erheblicher innenpolitischer Widerstände, vor allem bei Militärs und von Seiten der national-konservativen und kommunistischen Opposition, wurde der wachsende Einfluss der USA in Ost-/Mitteleuropa und in der postsowjetischen Region von der russischen Führung weitgehend akzeptiert und eine im Wesentlichen auf die USA orientierte Politik praktiziert. Im Gegenzug befürworteten die USA die Aufnahme Russlands in den Kreis der G7-Staaten, billigten Russland den Status einer Marktwirtschaft zu und befürworteten die Erweiterung der außen- und sicherheitspolitischen Kooperation mit Russland im Rahmen der NATO, soweit dadurch nicht Ziele und Interessen der USA beeinträchtigt wurden.

Durch die strategische Entscheidung Putins nach dem 11. September 2001, sich im Antiterrorkampf an die Seite der USA zu stellen, erlangten die Beziehungen zwischen Russland und den USA eine neue Qualität, rückte Russland "außenpolitisch so nah an Amerika, wie zuletzt in der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg". [ 4 ] Das Verhältnis zur Europäischen Union und zu den westeuropäischen Staaten behielt zwar weiterhin prioritäre Bedeutung in der russischen Außenpolitik, wurde aber stärker im Kontext und als Teil des transatlantischen Beziehungsgeflechts zwischen Europa und den USA gesehen. Die besonders in der ersten Hälfte der 90er Jahre nicht nur bei russischen Intellektuellen weit verbreiteten Vorstellungen von einem Sonderbündnis zwischen Russland und Deutschland als Kern eines eigenständigen, von den USA emanzipierten Europas wurden in der praktischen Außenpolitik Putins deutlich in den Hintergrund gedrängt. Erst die akute Zuspitzung des Irak- Konflikts führte zu einer Orientierung der russischen Außenpolitik auf Frankreich und Deutschland, wobei nachdrücklich betont wurde, dass es sich bei der Koordinierung des Vorgehens im Irak-Konflikt nicht um die Formierung eines europäischen Sonderbündnisses handele, sondern um "die Suche nach Wegen für die Zusammenarbeit beim Aufbau einer für alle Staaten der Welt annehmbaren Struktur und Architektur der internationalen Sicherheit im 21. Jahrhundert". [ 5 ]

Trotz der unterschiedlichen Positionen im Irak-Konflikt und der engen Koordinierung des außenpolitischen Vorgehens mit Frankreich und Deutschland gelang es der russischen Führung, die Grundlagen der Beziehungen zu den USA nicht zu gefährden. Die russische Außenpolitik konnte dabei an das spürbare Interesse der USA anknüpfen, die Kooperation mit Russland bei der Terrorismusbekämpfung fortzusetzen, um dadurch insbesondere den Ausbau der US-Stützpunkte in den zentralasiatischen Ländern, in denen der Einfluss Russlands nach wie vor erheblich ist, störungsfrei vorantreiben zu können. Ein weiterer Grund für das vorsichtige Agieren Russlands sind die latenten Zweifel an der Dauerhaftigkeit der deutschen und französischen Position sowie das Bemühen, im Falle der erwarteten – und jüngst eingetretenen – Überwindung bzw. Abschwächung der Konfrontationen zwischen den USA und Frankreich/Deutschland, eine außenpolitische Isolierung Russlands zu vermeiden.


Russische Wirtschaftsinteressen im Irak

In den Jahrzehnten der Systemauseinandersetzung hatte die Nahostregion auf Grund ihrer strategischen Lage und der bedeutenden Ölreserven für beide Seiten einen hohen Stellenwert. Sowohl die USA als auch die Sowjetunion waren bemüht, mit den Staaten der Region eine enge politische, wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit zu entwickeln, um dadurch die eigenen Interessen besser sichern zu können. Ideologische Aspekte bzw. die Herrschaftsstrukturen in den jeweiligen arabischen Partnerländern spielten dabei meist nur eine untergeordnete Rolle. Zwischen der Sowjetunion und dem Irak entwickelte sich in vielen Wirtschaftsbereichen ein enges Beziehungsgeflecht. Der Handelsaustausch erreichte Ende der 80er Jahre einen Umfang von etwa zwei Mrd. Dollar im Jahr. Ein besonders hohes Niveau hatte die militärische und rüstungstechnische Zusammenarbeit. Die irakische Armee war größtenteils mit sowjetischen Waffen und Rüstungssystemen bzw. mit Eigenproduktionen auf sowjetischer rüstungstechnologischer Grundlage ausgestattet. Ein großer Teil des irakischen Offizierskorps und des ingenieurtechnischen Personals war zudem an sowjetischen Militärhochschulen ausgebildet worden. [ 6 ] Durch diese rüstungstechnische Zusammenarbeit wuchsen die irakischen Schulden gegenüber der Sowjetunion bis 1990 auf etwa acht Mrd. Dollar, die bis zum Zusammenbruch des Saddam-Regimes nicht getilgt wurden und als Forderungen Russlands weiter bestehen. [ 7 ] Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden die Beziehungen zum Irak von Russland weitergeführt, wobei sich die Zusammenarbeit in der Zeit der Sanktionen anfangs auf den humanitären Bereich beschränkte und erst seit Mitte der 90er Jahre auch wieder auf andere (nicht militärische) Felder ausgedehnt (Lieferung von Industrieausrüstungen; Investitionen in Rekonstruktion und den Wiederaufbau von Industrieanlagen) wurde.

Besondere Bedeutung für Russland erlangte die Kooperation im Bereich der Erdöl- und Energiewirtschaft. Durch ein Abkommen über die Zusammenarbeit in der Erdöl- und Erdgasindustrie (1995) und den Vertrag über die Zusammenarbeit bei der Erschließung von Lagerstätten (1997) sicherten sich russische Unternehmen einen bedeutenden Teil der Geschäfte im Rahmen des UN-Programms Öl-für-Nahrung. Etwa 35-40 % der von der UNO sanktionierten irakischen Erdölexporte wurden von russischen Firmen realisiert. Allein 2002 betrug ihr Umsatz etwa 2,8 Mrd. Dollar. [ 8 ] Weitere Kooperationsabkommen zur Erschließung neuer Erdölfelder, die allerdings Ende 2002 noch vom Saddam-Regime suspendiert wurden, zielten sowohl auf die Tilgung der irakischen Altschulden als auch auf die Mitwirkung beim Wiederaufbau der irakischen Wirtschaft nach Aufhebung der Wirtschaftssanktionen. Das Hauptinteresse von russischer Seite bestand bei all diesen Aktivitäten darin, sich längerfristig eine Beteiligung an der irakischen Erdölförderung zu sichern, um damit Einfluss auf die internationale Erdölpreisbildung nehmen zu können. [ 9 ] Mit der Zerschlagung des Saddam-Regimes durch die USgeführte Militäraktion außerhalb eines Mandats der Vereinten Nationen wurde für Russland nicht nur die gesamte Vertragsbasis in Frage gestellt, sondern es verlor auch weitgehend seine direkten Einflussmöglichkeiten. Die Zustimmung zur UN-Sicherheitsratsresolution über die Gestaltung der Nachkriegsordnung im Irak und die Anerkennung der Vollmachten der Siegermächte verband Russland deshalb vor allem mit der Absicht, ein Mindestmaß an Mitspracherecht in den Irak-Angelegenheiten durchzusetzen, um so seine politischen und wirtschaftlichen Interessen wahrnehmen zu können.


Freie Hand in Tschetschenien

Neben der Sicherung seiner wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen in der Krisenregion tangierte die russische Politik im Irak-Konflikt direkt und indirekt zwei weitere sensible Bereiche der russischen Politik. Zum einen wurde die Gelegenheit genutzt, das Vorgehen im Tschetschenien-Konflikt zu rechtfertigen und zum anderen wurden Schritte unternommen, um den verbliebenen Einfluss in der postsowjetischen Region zu stabilisieren.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 war es der russischen Führung gelungen, gewisse Verflechtungen von Teilgruppierungen des tschetschenischen Widerstandes mit internationalen terroristischen und mafiosen Strukturen, insbesondere dem Al Qaida-Netzwerk, zu verdeutlichen. Das Ergebnis davon war sowohl eine differenziertere Bewertung der Ursachen des Tschetschenien-Konfliktes durch die Bush-Administration und andere westliche Regierungen als auch die weitgehende Verdrängung der Kritik am Vorgehen der russischen Sicherheitskräfte aus den Medien und der Öffentlichkeit in den westlichen Ländern. Besonders wichtig für die russische Führung war auch die Vereinbarung einer partiellen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung tschetschenischer Rebellen im Rahmen der internationalen Terrorismusbekämpfung. Trotz der ablehnenden Haltung zum Irakkrieg der USA und ihrer Verbündeten ist es der russischen Führung ganz offensichtlich gelungen, dieses Zusammenwirken im Rahmen der Anti-Terrorismus-Koalition zu bewahren. So stellte US-Außenminister Colin Powell bei seinem ersten Aufenthalt in Moskau nach dem Ende der Kampfhandlungen im Irak die jüngsten Terrorakte in Saudi-Arabien und Tschetschenien ausdrücklich auf eine Ebene. Auf die Frage, ob tschetschenische Rebellen mit Hamas, Hisbollah und Al Qaida vergleichbar seien, antwortete Powell mit der Feststellung: "Sie sind alle in dem Sinne gleich, dass sie terroristische Organisationen sind, die zur Durchsetzung ihrer Ziele fest entschlossen sind, Gewalt anzuwenden und friedliche Bürger umzubringen. [...] Da sie als terroristische Organisationen miteinander verbunden sind, müssen die Terroristen von uns gemeinsam verfolgt werden". [ 10 ] Hintergrund für diese Haltung ist vor allem das Interesse der USA, die Zusammenarbeit mit Russland bei der Abwehr globaler und transnationaler Bedrohungen (Verbreitung von Massenvernichtungswaffen; illegale Einwanderungen; Drogenhandel; Infektionskrankheiten u.a.m.) fortzusetzen, um sich für die internationale Terrorismusbekämpfung weiterhin den Zugriff auf Erkenntnisse der russischen Nachrichtendienste zu sichern. Auf russischer Seite verspricht man sich davon eine weitgehende Duldung des Vorgehens der russischen Sicherheitskräfte in Tschetschenien, die Ausklammerung des Tschetschenien-Konflikts aus der internationalen Politik und die Isolierung der tschetschenischen Exilantengruppen in den westlichen Ländern.

Der Irak-Konflikt verdeutlichte, dass der politische Differenzierungsprozess zwischen den postsowjetischen Staaten weit fortgeschritten ist. Während Weißrussland, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgistan und Armenien grundsätzlich die Position Russlands vertraten, billigten Georgien, Usbekistan und die Ukraine die US-amerikanische Position und gewährten militärische und logistische Unterstützung für die Militäraktion gegen Irak. Trotz vielfältiger Bemühungen von russischer Seite gelang es nicht, im Rahmen der GUS einen gemeinsamen Standpunkt zur Unterstützung der russischen Position zu vereinbaren. Die Außenminister der GUS-Länder erklärten auf ihrer regulären Frühjahrstagung lediglich: "Die Minister führten einen Meinungsaustausch zum Irak-Problem. Dabei vertraten sie einmütig die Meinung, dass es notwendig sei, das Blutvergießen schnellstmöglich zu beenden und die Situation in einen Prozess der politischen Regulierung auf der Grundlage des Völkerrechts, der Charta der Vereinten Nationen, zu führen." [ 11 ] Die Haltung der postsowjetischen Staaten in der Irak-Krise zeigte zugleich, dass sich ihre Entscheidungen zur direkten oder indirekten Unterstützung der USA-Politik nicht gegen Russland richteten, sondern auf wirtschaftliche und politische Vorteile zielten. So ging es Georgien in erster Linie darum, die Bemühungen um einen möglichst raschen Beitritt zur NATO zu unterstreichen und durch das Angebot, den früheren russischen Luftwaffenstützpunkt Wasjani (50 km von der georgischen Hauptstadt Tbilissi entfernt) den USA als ständige Militärbasis zur Verfügung zu stellen, Georgien zum dauerhaften Hauptverbündeten der USA in der Kaukasus-Region zu machen. [ 12 ] Der ukrainische Präsident Kutschma ergriff die Chance, durch eine Unterstützung der amerikanischen Positionen sein durch Korruptionsaffären stark beeinträchtigtes internationales Ansehen wieder aufzubessern und den Beziehungen zwischen Kiew und Washington einen neuen Impuls zu verleihen. Russland seinerseits war bemüht, die Irak-Krise zu nutzen, um seinen Einfluss in der postsowjetischen Region, vor allem in Zentralasien, zu stabilisieren. Deutlicher als in den zurückliegenden Jahren bezeichnete Präsident Putin in seiner jährlichen Botschaft an das russische Parlament die GUS-Region "als Sphäre strategischer Interessen" und unterstrich nachdrücklich die Bedeutung der kürzlich erfolgten Umwandlung des Vertrages über Kollektive Sicherheit in eine Vertragsorganisation für die "Gewährleistung der Stabilität und Sicherheit in einem bedeutenden Teil der früheren Sowjetunion". [ 13 ] Weitere Kennzeichen für eine Aktivierung der russischen Politik gegenüber den postsowjetischen Nachbarländern sind die Reaktivierung des Truppenstationierungsabkommens mit Tadschikistan und auch die Vereinbarung zwischen den Präsidenten von Russland, Kasachstan, Weißrussland und der Ukraine über die Schaffung eines Gemeinsamen Wirtschaftsgebietes.


Alte und neue Interessen

Trotz des Festhaltens an seinen prinzipiellen Positionen und des aktiven Mitwirkens in der Koalition der Kriegsgegner ist es Russland – wie Präsident Putin einschätzte – durch eine flexible Politik im Wesentlichen gelungen, "die Grundlagen, das Fundament der russisch-amerikanischen Beziehungen zu erhalten", eine erneute Schwächung der Positionen Russlands in internationalen Angelegenheiten zu vermeiden und grundsätzliche Interessen im Irak zu wahren. Das Treffen zwischen Putin und Bush in St. Petersburg verdeutlichte ebenso wie zuvor die Gespräche zwischen den Außenministern Iwanow und Powell in Moskau das grundsätzliche Interesse der USA, den bisherigen politischen Kurs gegenüber Russland – trotz der Differenzen im Irak-Konflikt – beizubehalten. Ausschlaggebend dafür ist – neben taktischen Erwägungen, zwischen den Gegnern des Irakkriegs zu differenzieren – vor allem die Absicht der USA, sich Russlands Duldung bzw. Unterstützung in jenen Feldern der internationalen Politik zu sichern, in denen Russlands Positionen die globalen Zielsetzungen der USA tangieren. Dazu gehören sowohl die Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und das Vorgehen gegen den internationalen Terrorismus als auch die wachsende militärische und politische Präsenz der USA in Zentralasien und der Kaukasus- Region. "Uns vereinen sehr viele Dinge," erklärte Powell, "wir haben so viele gemeinsame Interessen, dass uns diese einigenden Momente zur dauerhaften Partnerschaft führen". [ 14 ] Da von russischer Seite dazu ebenfalls die Bereitschaft und das Interesse bestehen, ist davon auszugehen, dass das russisch- amerikanische Verhältnis auch künftig ein wichtiger Faktor im internationalen Beziehungsgefüge bleibt und für eine Reihe von Konflikt- und Politikfeldern entscheidend sein wird.

Schwierig zu prognostizieren ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt die weitere Entwicklung der Dreierbeziehung zwischen Russland, Deutschland und Frankreich. Einerseits gibt es zwischen diesen Ländern eine gewisse Interessenübereinstimmung, an einer multipolaren Weltordnung mit den Vereinten Nationen als wichtigstem Koordinierungszentrum festzuhalten und den Hegemonialbestrebungen der USA gemeinsam zu begegnen. Die Abstimmung der Positionen zur neuen Irak-Resolution des UN-Sicherheitsrates ist dafür ein Beispiel und zeugt davon, dass die Nähe der Standpunkte und Interessen der drei Länder in der Irak-Frage auch nach dem Ende der Kriegshandlungen fortbesteht und sie ihre außenpolitische Koordinierung auf diesem eng begrenzten Konfliktfeld fortsetzen werden. Andererseits differieren die globalen und regionalen Zielsetzungen der drei Länder sowie ihre politischen und wirtschaftlichen Bindungen mit den USA erheblich, so dass eine Institutionalisierung der Zusammenarbeit der drei Länder oder eine Ausweitung auf andere Problemfelder kaum in Betracht kommen. Die Herausbildung eines Sonderverhältnisses dieser drei Staaten würde zudem die Widersprüche innerhalb der Europäischen Union – besonders nach ihrer Erweiterung um sieben osteuropäische Länder – vertiefen und die angestrebte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gänzlich in Frage stellen. Innenpolitisch wurden aus der Irak-Krise in Russland bereits vor allem in zwei Richtungen Schlussfolgerungen gezogen. Zum einen bemüht sich Präsident Putin den Tschetschenien-Konflikt durch eine Reihe politischer Maßnahmen zu beruhigen (Verfassung; Amnestie; Verhandlungsbereitschaft), wobei gleichzeitig die militärischen Zwangsmaßnahmen unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung unvermindert fortgesetzt werden. Zum anderen hat Präsident Putin auf Drängen der Militärs die Modernisierung der Ausrüstung und die beschleunigte Bereitstellung neuer Waffenarten, darunter Nuklearwaffen, für die russische Armee sowie eine Erhöhung der Rüstungsausgaben angekündigt. Auch mit der seit mehreren Jahren verschleppten Militärreform soll nunmehr ernsthaft begonnen werden. Die Lösung aller dieser Aufgaben hängt aber letztendlich von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung Russlands ab, die aber – nicht nur auf Grund der Erdölpreissituation – unsicher und anfällig bleibt.


ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BITS.

 

[1] Erklärung von Präsident Wladimir Putin am 20. März bei einer Beratung im Kreml, in: "Nesawissimaja Gaseta", 21.3.2003 (Internetausgabe), www.ng.ru/politics/2003-03-21/1_putin.html.

[2] Interview mit dem Ständigen Vertreter Russlands bei den Vereinten Nationen, Sergej Lawrow, in: "Nesawissimaja Gaseta", 18.4.2003, (Internetausgabe), www.ng.ru/world/2003-04-18/1_oon.html.

[3] Erklärung des Außenministers Russlands, Igor Iwanow, auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Außenminister Colin Powell, am 14.5. 2003 in Moskau, www.ln.mid.ru/brp_4.nsf/.

[4] Putin setzt auf Amerika, in: "GUS-Barometer", 32/2003, S. 1.

[5] Wladimir Putin auf der gemeinsamen Pressekonferenz zum Abschluss der dreiseitigen Gespräche mit Bundeskanzler Gerhard Schröder und Präsident Jacques Chirac, am 11.4.2003 in St. Peterburg, http://www.ln.mid.ru/bl.nsf/.

[6] Nach veröffentlichten Angaben verfügte die irakische Armee vor Beginn des Krieges über etwa 2 000 Panzer, 3 600 gepanzerte Fahrzeuge und 3 250 Geschütze. Die Luftwaffe verfügte über etwa 300 Kampfflugzeuge und 100 Kampfhubschrauber. Die Waffen waren größtenteils sowjetischer Herkunft; vgl. "Berliner Zeitung", 27.2.2003, S. 6 sowie David Miller, Conflict Iraq – Weapons und Tactics of the US and Iraqi Forces, MBI Publishing Company, St. Paul 2003.

[7] Vgl. "Nesawissimaja Gaseta", 14.4.2003 (Internetausgabe), www.//ng.ru/economics/2003-04-14/4_usa.html.

[8] Zahlenangaben vgl. M. Borisowa, Torg s SSCHA poka umesten (Ein Deal mit den USA ist noch angebracht), in: "Nesawissimaja Gaseta", 16.5.2003 (Internetausgabe), http://www.ng.ru/economics/2003-05-16/3_torg.html.

[9] Der russische Staatshaushalt für 2003 basiert auf einem mittleren Erdölpreis von 21,5 Dollar pro Barrel. Durch die Preispolitik der OPEC und das erhöhte Angebot sank der durchschnittliche Erdölpreis während des Irakkriegs von knapp 40 auf etwa 25 Dollar je Barrel, so dass für Russland bis jetzt aus dem relativ gesunkenen Erdölpreis keinerlei Haushaltsprobleme resultierten. Experten halten es aber für möglich, dass die USA mit Hilfe des irakischen Erdöls längerfristig einen Erdölpreis von etwa 12 Dollar je Barrel durchsetzen könnten. Dadurch entstünden für Russland nicht nur ernsthafte Budgetdefizite, sondern auch Rentabilitätsprobleme in der heimischen Erdölproduktion. Zahlenangaben und Einschätzungen vgl. "Märkte des Ostens", 5/2002; W. L. Inosemzew, Neftjanoj antiterror (Erdöl gegen Terror), in: "Nesawissimaja Gaseta", 25.3.2003 (Internetausgabe), http://www.ng.ru/world/2003-03-25/4_antiterror.html; J. Alexandrow, Rynok bes Saddama (Markt ohne Saddam), in: "Nesawissimaja Gaseta", 25.4.2003 (Internetausgabe), http://www.ng.ru/economics/2003-04-25/11_saddam.html.

[10] Interview mit dem russischen Fernsehsender NTV am 19.5.2003, http://moscow.usembassy.gov/meet/transcript13r.htm.

[11] Pressemitteilung vom 12.4.2003 über die Tagung des Außenministerrates der Teilnehmerstaaten der GUS, http://www.ln.mid.ru/brp_4.nsf/.

[12] Vgl. den Beitrag von Sebastian Mayer, Tbilisi, Washington und die NATO. Perspektiven der georgischen Außen- und Sicherheitspolitik, in: "Blätter", 6/2003, S. 706-714. – D. Red.

[13] Botschaft des Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, an die Föderale Versammlung der Russischen Föderation, in: "Informationsbulletin des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten", Moskau, 16.5.2003, http://www.ln.mid.ru/bl.nsf/.

[14] Interview mit dem russischen Fernsehsender NTV am 19.5.2003, http://moscow.usembassy.gov/meet/transcript13r.htm.