Die Nukleare Teilhabe in der NATO – Wird Europa ausgetrickst?
von Otfried Nassauer
Die USA haben in den letzten Monaten zwei Schritte zur Modernisierung
ihres Atomwaffenpotentials durchgeführt. Beide könnten
Auswirkungen auf die NATO und deren Konzept der Nuklearen Teilhabe
sowie der nukleare Konsultationen haben. Deren Bedeutung könnte
sich in Zukunft verringern.
Worum geht es? Die nukleare Teilhabe besteht aus zwei
Komponenten, einer technischen und einer politischen. Zur technischen
gehört als Kern die Bereitstellung europäischer
Trägersysteme für den Einsatz von US-Atomwaffen im Kriegsfall
und von Lagermöglichkeiten für US-Atomwaffen. Zur
politischen Teilhabe gehört die Beteiligung an NATO-Gremien, in
den Informationen ausgetauscht, Zukunftsplanungen diskutiert und
Entscheidungen über nukleare Angelegenheiten getroffen werden wie
z.B. an der Nuklearen Planungsgruppe und der nachgeordneten
Arbeitsebene im NATO-Hauptquartier in Brüssel, aber auch an den
mit Nuklearwaffen befassten Teilen der militärisch-operativen
Stäbe des militärischen Oberkommandos im belgischen Mons. Die
Beteiligung an der technischen nuklearen Teilhabe ist keine
Voraussetzung dafür, bei der politischen mitmachen zu
können.
Als die NATO in den späten 1960er Jahren den
Übergang zur Strategie der flexiblen Antwort vollzog und der
nukleare Nichtverbreitungsvertrag anstand, waren die nicht-nuklearen
NATO-Mitglieder bemüht, sich Informations- und Mitspracherechte
oder gar partielle Mitenscheidungsrechte in Nuklearfragen zu sichern.
Dem sollte u.a. eine Weiterentwicklung der 1962 eingeführten
provisorischen Konsultationsmechanismen im Blick auf den Einsatz
nuklearer Waffen durch die NATO dienen. Es entstanden zwei Dokumente.
Das eine betraf generelle Richtlinien für Konsultationen über
Fragen des NATO-Einsatzes atomarer Waffen und verursachte relativ wenig
Debatte.
Das andere zielte auf die Frage von Konsultationen über
den erstmaligen Einsatz (initial use) nuklearer Waffen durch die NATO,
also das Überschreiten der Schwelle zur nuklearen
Kriegführung. Dieses Papier betraf also Fragen des Primats der
Politik und der politischen Kontrolle über
militärisch-nukleare Planungen. Zweifellos waren das Fragen, bei
denen die nicht-nuklearen Staaten Europas mitreden oder mitentscheiden
wollten. Wann und in welcher Form soll der erste Einsatz nuklearer
Waffen erfolgen? Was soll damit erreicht werden? Die NATO hielt sich ja
explizit die Möglichkeit eines Ersteinsatzes (first use)
offen.
Über diese Frage wurde noch Jahrzehnte intensiv
gestritten. Selbst bei Debatten über die Einführung neuer
Nuklearwaffen, die neue Optionen des Ersteinsatzes ermöglichten
wie die Pershing II, waren das der Fall. Stärkten die neuen Waffen
die Möglichkeit, einen begrenzten Nuklearkrieg in Europa zu
führen oder stärkten sie die Ankopplung der USA? Bis zum Ende
des Kalten Krieges wurde keine Einigkeit erzielt. Spötter sprachen
von der Strategie der flexiblen Interpretation.
Der INF-Vertrag und das Ende des Kalten Krieges führten
zu einem weitgehenden Abbau der taktischen Atomwaffen in Europa und
damit auch der materiellen Basis, um einen begrenzbaren Atomkrieg in
Europa führen zu können. Die Rolle der verbleibenden Waffen
sah man politisch in der Kriegsverhinderung. Der Grund, intensiv
über Fragen des Ersteinsatzes und der atomaren An- oder Abkopplung
zu streiten, verschwand.
Seit dem Wiederaufflackern der Konfrontation mit Russland
kehren auch die alten Geister wieder zurück. In den USA gewannen
Vertreter der Position an Gewicht, dass nur, wer die Fähigkeit
habe, einen nuklearen Krieg tatsächlich zu führen und
begrenzte Kernwaffeneinsätze anzudrohen, glaubhaft abschrecken
könne. Unter Präsident Trump hat das zu ersten praktischen
Konsequenzen geführt, die Europa zu denken geben
sollten.
Ende 2019 schickten die USA erstmals ein strategisches
Raketen-U-Boot (SSBN) auf Patrouille, das mindestens eine
Trident-II-D5-Rakete an Bord hatte, die nur einen kleinen Sprengkopf
vom Typ W76-2 mit ca. 8 KT Sprengkraft trug. Der Einsatz dieses als
substrategisch erachteten Sprengkopfs für einen „initial
nuclear use“ in Reaktion auf einen angenommenen taktischen
Kernwaffeneinsatz Russlands in Europa wurde bereits im Februar in einem
kleinen Kriegsspiel bei STRATCOM durchgespielt. Ob Washington die NATO
konsultierte oder auch nur informierte, war keiner Erwähnung wert.
Das Kriegsspiel wurde als nationale Übung präsentiert.
Bekanntlich kann ein initial use (erstmaliger Einsatz) von Kernwaffen
in der NATO auch die Form eines Ersteinsatzes (first use) annehmen.
NATO-Oberbefehlshaber Wolters bekannte zeitgleich, „Fan einer
flexiblen Ersteinsatzpolitik“ zu sein, verzichtete aber darauf zu
erklären, was diese von der bisherigen Ersteinsatzpolitik
unterscheide.
Wie der Spiegel berichtete, wurden die in Büchel
stationierten US-Nuklearwaffen für 48 Stunden für ein
„Softwareupdate“ in die USA geflogen. Da Software
eingeflogen oder übertragen werden kann, ging wahrscheinlich um
weit mehr als nur eine neue Software. Die Waffen wurden wohl gegen
andere gleichen Typs ausgetauscht. Dafür gäbe es Gründe.
Sei 2014 entwickeln die US-Waffenlabore Verbesserungen der
Sicherheitsarchitektur für die Atombomben der B61-Familie. Diese
sollten Ende 2019 zur Verfügung stehen. Es ging um eine
verbesserte „UC“. UC steht für Use Control als um eine
bessere Nutzungs- und Einsatzkontrolle, die auch die Verhinderung
ungewollter Eingriffe umfasst. Technische Änderungen zu diesem
Zweck erfordern in der Tat oft so tiefe Eingriffe in die Waffen, dass
sie nur in den USA vorgenommen werden können.
Vorrangiger Zweck ist es, jeglichen unautorisierten Einsatz
sowie alle manipulativen technischen Eingriffe in die nuklearen Waffen
zu unterbinden. Diese sollen nur bei exakt dem Einsatz explodieren
können, den der US-Präsident freigegeben hat. In allen
anderen Fällen und auch wenn die Waffe technisch manipuliert wird,
soll sie sich selbst unbrauchbar machen. Die Instandsetzung ist dann
nur noch beim Hersteller möglich.
Beide Vorgänge können die nukleare Teilhabe
berühren. Beide können zur Konsequenz haben, dass diese
geschwächt oder gar ausgehebelt wird. Warum?
Die Einführung des kleinen Trident-Sprengkopfs und das
Kriegsspiel zeigen: Die USA können von einem US-Boot aus eine
US-Rakete mit einem US-Sprengkopf als substrategisches Mittel für
einen begrenzten atomaren Einsatz nutzen und dabei wählen, ob das
Ziel auf dem Territorium Russlands oder eines anderen Landes liegt.
US-U-Boote werden der NATO in Krise und Krieg nicht mehr unterstellt.
Es braucht kein europäisches Mittun, um die Schwelle zu einem auf
Europa begrenzten Nuklearwaffeneinsatz zu überschreiten.
Washington besitzt eine attraktivere Alternative zu den in Europa
stationierten nuklearfähigen Flugzeugen, die zudem erst die
russische Luftabwehr überwinden müssten. Diese Alternative
hat ähnliche Vorteile wie damals die Pershing II: Die kleine
Sprengkraft mit geringerem Kollateralschaden, eine kurze Flugzeit und
eine Reichweite bis nach Russland. Die Waffe kann sowohl in Reaktion
auf einen russischen Ersteinsatz genutzt werden als auch für einen
eigenen Ersteinsatz. Sie bürdet dem Gegner die schwierige
Entscheidung auf, ob er den Konflikt tatsächlich weiter eskalieren
soll. Die Russland in den USA oft unterstellte „escalate to
de-escalate“-Strategie kann gespiegelt werden.
Auch technischen Änderungen an den B61-Bomben
könnten eine Nebenwirkung haben. Auf den ersten Blick machen sie
die Waffen sicherer. Das ist gut so. Aber ist damit die Nebenwirkung
verbunden, dass die nuklearfähigen Trägerflugzeuge in Europa
(DCA) die Waffen nur noch gegen im Voraus festgelegte Ziele oder
Zielgruppen einsetzen können und somit die für einen
„Initial Use“ erforderliche Flexibilität der
Zielplanung nicht mehr gewährleisten? Die Waffe der Wahl für
einen solchen Einsatz wären dann wiederum die Trident-II-D5 mit
einem kleinen Sprengkopf vom Typ W76-2.
Für Deutschland finden diese Änderungen im
US-Nukleardispositiv zu einer heiklen Zeit statt. Die Bundesregierung
möchte weiter bei der Nuklearen Teilhabe mitwirken und das BMVg
plant deshalb rasch 30 Flugzeuge des Typs F-18F zu beschaffen, um den
Tornado abzulösen. Die Hoffnung, man könne via nuklearer
Teilhabe Einfluss auf den ersten oder einen Ersteinsatz von Atomwaffen
in Europa nehmen, könnte aber durch die US-Modernisierungen
weitgehend gegenstandslos werden. Der geplante Kauf neuer
Kampfflugzeugen würde dann zu einem milliardenteuren Selbstbetrug.
Er könnte seinen Zweck nicht mehr erfüllen.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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