Das Blättchen
Nr. 9 / 27. April 2020
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Die Nukleare Teilhabe in der NATO – Wird Europa ausgetrickst?

von Otfried Nassauer


Die USA haben in den letzten Monaten zwei Schritte zur Modernisierung ihres Atomwaffenpotentials durchgeführt. Beide könnten Auswirkungen auf die NATO und deren Konzept der Nuklearen Teilhabe sowie der nukleare Konsultationen haben. Deren Bedeutung könnte sich in Zukunft verringern. 

Worum geht es? Die nukleare Teilhabe besteht aus zwei Komponenten, einer technischen und einer politischen. Zur technischen gehört als Kern die Bereitstellung europäischer Trägersysteme für den Einsatz von US-Atomwaffen im Kriegsfall und von Lagermöglichkeiten für  US-Atomwaffen. Zur politischen Teilhabe gehört die Beteiligung an NATO-Gremien, in den Informationen ausgetauscht, Zukunftsplanungen diskutiert und Entscheidungen über nukleare Angelegenheiten getroffen werden wie z.B. an der Nuklearen Planungsgruppe und der nachgeordneten Arbeitsebene im NATO-Hauptquartier in Brüssel, aber auch an den mit Nuklearwaffen befassten Teilen der militärisch-operativen Stäbe des militärischen Oberkommandos im belgischen Mons. Die Beteiligung an der technischen nuklearen Teilhabe ist keine Voraussetzung dafür, bei der politischen mitmachen zu können. 

Als die NATO in den späten 1960er Jahren den Übergang zur Strategie der flexiblen Antwort vollzog und der nukleare Nichtverbreitungsvertrag anstand, waren die nicht-nuklearen NATO-Mitglieder bemüht, sich Informations- und Mitspracherechte oder gar partielle Mitenscheidungsrechte in Nuklearfragen zu sichern. Dem sollte u.a. eine Weiterentwicklung der 1962 eingeführten provisorischen Konsultationsmechanismen im Blick auf den Einsatz nuklearer Waffen durch die NATO dienen. Es entstanden zwei Dokumente. Das eine betraf generelle Richtlinien für Konsultationen über Fragen des NATO-Einsatzes atomarer Waffen und verursachte relativ wenig Debatte. 

Das andere zielte auf die Frage von Konsultationen über den erstmaligen Einsatz (initial use) nuklearer Waffen durch die NATO, also das Überschreiten der Schwelle zur nuklearen Kriegführung. Dieses Papier betraf also Fragen des Primats der Politik und der politischen Kontrolle über militärisch-nukleare Planungen. Zweifellos waren das Fragen, bei denen die nicht-nuklearen Staaten Europas mitreden oder mitentscheiden wollten. Wann und in welcher Form soll der erste Einsatz nuklearer Waffen erfolgen? Was soll damit erreicht werden? Die NATO hielt sich ja explizit die Möglichkeit eines Ersteinsatzes (first use) offen. 

Über diese Frage wurde noch Jahrzehnte intensiv gestritten. Selbst bei Debatten über die Einführung neuer Nuklearwaffen, die neue Optionen des Ersteinsatzes ermöglichten wie die Pershing II, waren das der Fall. Stärkten die neuen Waffen die Möglichkeit, einen begrenzten Nuklearkrieg in Europa zu führen oder stärkten sie die Ankopplung der USA? Bis zum Ende des Kalten Krieges wurde keine Einigkeit erzielt. Spötter sprachen von der Strategie der flexiblen Interpretation.

Der INF-Vertrag und das Ende des Kalten Krieges führten zu einem weitgehenden Abbau der taktischen Atomwaffen in Europa und damit auch der materiellen Basis, um einen begrenzbaren Atomkrieg in Europa führen zu können. Die Rolle der verbleibenden Waffen sah man politisch in der Kriegsverhinderung. Der Grund, intensiv über Fragen des Ersteinsatzes und der atomaren An- oder Abkopplung zu streiten, verschwand.

Seit dem Wiederaufflackern der Konfrontation mit Russland kehren auch die alten Geister wieder zurück. In den USA gewannen Vertreter der Position an Gewicht, dass nur, wer die Fähigkeit habe, einen nuklearen Krieg tatsächlich zu führen und begrenzte Kernwaffeneinsätze anzudrohen, glaubhaft abschrecken könne. Unter Präsident Trump hat das zu ersten praktischen Konsequenzen geführt, die Europa zu denken geben sollten.  

Ende 2019 schickten die USA erstmals ein strategisches Raketen-U-Boot (SSBN) auf Patrouille, das mindestens eine Trident-II-D5-Rakete an Bord hatte, die nur einen kleinen Sprengkopf vom Typ W76-2 mit ca. 8 KT Sprengkraft trug. Der Einsatz dieses als substrategisch erachteten Sprengkopfs für einen „initial nuclear use“ in Reaktion auf einen angenommenen taktischen Kernwaffeneinsatz Russlands in Europa wurde bereits im Februar in einem kleinen Kriegsspiel bei STRATCOM durchgespielt. Ob Washington die NATO konsultierte oder auch nur informierte, war keiner Erwähnung wert. Das Kriegsspiel wurde als nationale Übung präsentiert. Bekanntlich kann ein initial use (erstmaliger Einsatz) von Kernwaffen in der NATO auch die Form eines Ersteinsatzes (first use) annehmen. NATO-Oberbefehlshaber Wolters bekannte zeitgleich, „Fan einer flexiblen Ersteinsatzpolitik“ zu sein, verzichtete aber darauf zu erklären, was diese von der bisherigen Ersteinsatzpolitik unterscheide. 

Wie der Spiegel berichtete, wurden die in Büchel stationierten US-Nuklearwaffen für 48 Stunden für ein „Softwareupdate“ in die USA geflogen. Da Software eingeflogen oder übertragen werden kann, ging wahrscheinlich um weit mehr als nur eine neue Software. Die Waffen wurden wohl gegen andere gleichen Typs ausgetauscht. Dafür gäbe es Gründe. Sei 2014 entwickeln die US-Waffenlabore Verbesserungen der Sicherheitsarchitektur für die Atombomben der B61-Familie. Diese sollten Ende 2019 zur Verfügung stehen. Es ging um eine verbesserte „UC“. UC steht für Use Control als um eine bessere Nutzungs- und Einsatzkontrolle, die auch die Verhinderung ungewollter Eingriffe umfasst. Technische Änderungen zu diesem Zweck erfordern in der Tat oft so tiefe Eingriffe in die Waffen, dass sie nur in den USA vorgenommen werden können. 

Vorrangiger Zweck ist es, jeglichen unautorisierten Einsatz sowie alle manipulativen technischen Eingriffe in die nuklearen Waffen zu unterbinden. Diese sollen nur bei exakt dem Einsatz explodieren können, den der US-Präsident freigegeben hat. In allen anderen Fällen und auch wenn die Waffe technisch manipuliert wird, soll sie sich selbst unbrauchbar machen. Die Instandsetzung ist dann nur noch beim Hersteller möglich.

Beide Vorgänge können die nukleare Teilhabe berühren. Beide können zur Konsequenz haben, dass diese geschwächt oder gar ausgehebelt wird. Warum?

Die Einführung des kleinen Trident-Sprengkopfs und das Kriegsspiel zeigen: Die USA können von einem US-Boot aus eine US-Rakete mit einem US-Sprengkopf als substrategisches Mittel für einen begrenzten atomaren Einsatz nutzen und dabei wählen, ob das Ziel auf dem Territorium Russlands oder eines anderen Landes liegt. US-U-Boote werden der NATO in Krise und Krieg nicht mehr unterstellt. Es braucht kein europäisches Mittun, um die Schwelle zu einem auf Europa begrenzten Nuklearwaffeneinsatz zu überschreiten. Washington besitzt eine attraktivere Alternative zu den in Europa stationierten nuklearfähigen Flugzeugen, die zudem erst die russische Luftabwehr überwinden müssten. Diese Alternative hat ähnliche Vorteile wie damals die Pershing II: Die kleine Sprengkraft mit geringerem Kollateralschaden, eine kurze Flugzeit und eine Reichweite bis nach Russland. Die Waffe kann sowohl in Reaktion auf einen russischen Ersteinsatz genutzt werden als auch für einen eigenen Ersteinsatz. Sie bürdet dem Gegner die schwierige Entscheidung auf, ob er den Konflikt tatsächlich weiter eskalieren soll. Die Russland in den USA oft unterstellte „escalate to de-escalate“-Strategie kann gespiegelt werden. 

Auch technischen Änderungen an den B61-Bomben könnten eine Nebenwirkung haben. Auf den ersten Blick machen sie die Waffen sicherer. Das ist gut so. Aber ist damit die Nebenwirkung verbunden, dass die nuklearfähigen Trägerflugzeuge in Europa (DCA) die Waffen nur noch gegen im Voraus festgelegte Ziele oder Zielgruppen einsetzen können und somit die für einen „Initial Use“ erforderliche Flexibilität der Zielplanung nicht mehr gewährleisten? Die Waffe der Wahl für einen solchen Einsatz wären dann wiederum die Trident-II-D5 mit einem kleinen Sprengkopf vom Typ W76-2.

Für Deutschland finden diese Änderungen im US-Nukleardispositiv zu einer heiklen Zeit statt. Die Bundesregierung möchte weiter bei der Nuklearen Teilhabe mitwirken und das BMVg plant deshalb rasch 30 Flugzeuge des Typs F-18F zu beschaffen, um den Tornado abzulösen. Die Hoffnung, man könne via nuklearer Teilhabe Einfluss auf den ersten oder einen Ersteinsatz von Atomwaffen in Europa nehmen, könnte aber durch die US-Modernisierungen weitgehend gegenstandslos werden. Der geplante Kauf neuer Kampfflugzeugen würde dann zu einem milliardenteuren Selbstbetrug. Er könnte seinen Zweck nicht mehr erfüllen.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS