Friedensforum
Ausgabe 3 / Juni 2009


60 Jahre NATO: Kollektive Selbstverteidigung gegen den Wandel

von Otfried Nassauer

Mit Pomp und riesigem Sicherheitsaufwand hat die NATO ihren 60. Geburtstag gefeiert. Symbolträchtige Gesten und Bilder: Frankreich kehrt in die Militärstruktur zurück, neue Mitglieder wurden aufgenommen, ein neuer Generalsekretär gewählt, eine Gipfelerklärung verabschiedet und natürlich: Der erste Auftritt von Barack Obama vor der NATO - die Allianz feierte sich und wollte den Anspruch untermauern, auch künftig Europas wichtigste Sicherheitsinstitution zu sein.

„Change – Yes we can!“ auch bei der NATO? Barack Obama ließ hoffen und setzte Zeichen. Er zeigte sich als guter Zuhörer, versprach Europa einen kooperativen Umgang und verzichtete auf Forderungen nach mehr Truppen für Afghanistan. Er überraschte mit der Ankündigung, die Vision einer atomwaffenfreien Welt wiederzubeleben und kündigte einen neuen Abrüstungsvertrag mit Russland an. Seinen Worten folgten konkrete Schritte, um das Verhältnis zu Russland zu entkrampfen und neue Vereinbarungen zu erleichtern. Selbst im Streit um das iranische Atomprogramm schlug er neue Töne an. Er zeigte Verhandlungsbereitschaft – auch zu bilateralen Gesprächen – und bestritt nicht länger, dass Teheran im Grundsatz das Recht hat, Uran anzureichern.

Und die NATO selbst? „Change ? – No we can’t“ - so könnte die Überschrift über die Gipfelbeschlüsse lauten. Das Militärbündnis erwies sich als Lordsiegelbewahrer des Erbes von George W. Bush. Symptomatisch die Gipfeldokumente: Sie lesen sich in weiten Teilen, als habe in den USA kein oder gar ein gefährlicher Regierungswechsel stattgefunden. Erfolgreich war ein Bündnis konservativer NATO-Bürokraten, amerikanischer Diplomaten aus der Bush-Ära und den neuen NATO-Mitgliedern. Aus ihrer Sicht muss die NATO vor Konkurrenz durch andere Institutionen geschützt und dafür gesorgt werden, dass alle potentiellen militärischen Aufgaben und Fähigkeiten primär in die Zuständigkeit der NATO fallen. Sie sehen in Russland eine latente Gefahr und die Hauptaufgabe der NATO darin, Sicherheit vor Russland zu garantieren. Moskau soll bei wichtigen Entscheidungen über die europäische Sicherheit möglichst außen vor gehalten werden. Präventive und kollektive Selbstverteidigung gegen den Wandel durch Obama könnte man dies nennen. Die Gipfel-Dokumente tragen seine Unterschrift. Daran kann er künftig erinnert werden. Sie stärken jene Kräfte in der neuen US-Administration, die weiterhin klassische, realpolitische Machtpolitik machen wollen.

Ein kräftiges „Weiter so“ enthalten die Gipfeldokumente im Blick auf die globale Ausrichtung der NATO: Die Allianz soll „die Bereitstellung umfassend vorbereiteter und verlegbarer Streitkräfte“ sicherstellen, die „fähig sind, das volle Spektrum militärischer Operationen und Missionen durchzuführen – auf dem und über das Territorium der Allianz hinaus, an dessen Peripherie und über strategische Distanzen“. Deutlicher kann der Anspruch, ein Militärbündnis mit globaler Aufgabe zu sein, kaum formuliert werden. Im Vordergrund stehen die Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Auf weitere globale Aufgaben wird vorbereitet. So will die NATO prüfen, ob sie die Bekämpfung der Piraterie zu einer Daueraufgabe macht. Energiesicherheit, Klimawandel und zerfallende Staaten werden als Risiken benannt, die ebenfalls ein globales Engagement erfordern können. Zudem erklärt die NATO ihr Interesse enger mit der UNO zusammen zu arbeiten. Würde sie wie gewünscht von der UNO als Regionalorganisation behandelt, so gewänne sie erheblich an Legitimation.

Obama’s Ankündigung, die Bekämpfung des internationalen Terrorismus in Afghanistan mit mehr Truppen, mehr Geld, verstärkten zivilen Bemühungen sowie einem umfassenden Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte zu stärken, werden von der NATO im Sinne einer „Surge-Strategie“ interpretiert. Indirekt wird sogar angedeutet, dass dies eine Ausweitung ihrer Operationen auf Pakistan erfordern könnte: „Die internationale Gemeinschaft zielt darauf, sicherzustellen, dass Al Kaida und andere gewalttätige Extremisten Afghanistan und Pakistan nicht als „sicheren Himmel“ nutzen können, aus dem heraus sie Terrorangriffe starten können.“

Signale Obamas, auf Russland zuzugehen konterkariert die NATO. Während Obama die Pläne für ein Raketenabwehrsystem in Europa überprüfen will, will die Machbarkeit eines ganz Europa schützenden Raketenabewehrsystems weiter untersuchen. Russlands Vorschlag, über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur nachzudenken, wird für diskussionswürdig befunden, aber zugleich indirekt zurückgewiesen, indem eine Diskussion über neue Sicherheitsinstitutionen ausgeschlossen wird. Moskaus Georgienpolitik wird scharf, ja einseitig kritisiert. Moskau habe die Prinzipien der OSZE und der NATO-Russland-Akte verletzt. Es wird aufgefordert, seine Truppen vollständig abzuziehen. Georgien dagegen wird nicht kritisiert. Im Gegenteil: Die NATO erneuert das Versprechen, Georgien und die Ukraine aufzunehmen. Sie verspricht zwar, die Diskussionen im NATO-Russland-Rat wiederzuaufnehmen, will aber mit Moskau nur dann reden, wenn zuvor Konsens unter den NATO-Mitgliedern erzielt wurde.

Die von Obama angestrebte Wiederbelebung der Rüstungskontrolle wird erschwert. Für die Wiederbelebung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa (KSE) listet das Kommunique eine Vielzahl von Vorbedingungen auf, die Russland erfüllen müsse, bevor Fortschritte möglich seien. Obamas Ankündigung nuklearer Abrüstung, wird begrüßt. Zugleich kontert die NATO seine Vision einer atomwaffenfreien Welt mit der Feststellung, man werde für „nukleare und konventionelle Abrüstung in Übereinstimmung mit dem Atomwaffensperrvertrag werben“. Mit dieser Formel wiesen die Nuklearmächte traditionell Forderungen nach nuklearer Abrüstung zurück. Zugleich will die NATO an einem „ausgewogenen Mix nuklearer und konventioneller Fähigkeiten“ zur Abschreckung festhalten. So wird traditionell die nukleare Teilhabe und die Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen in Europa begründet. Aktiver will Brüssel künftig die Abrüstungsleistungen seiner Mitglieder vermarkten, lehnte aber ab, ein Aktionsplan mit konkreten Rüstungskontrollschritten zu beschließen.

Probleme und interne Widersprüche in der Allianz klammerte der Gipfel aus. Kein Wort darüber, dass die vom Scheitern bedrohten militärischen Operationen der NATO „out of area“ dazu führen können, dass die NATO „out of business“ gehen könnte, weil diese Einsätze in vielen NATO-Ländern kaum innenpolitische Akzeptanz haben. Kein Wort dazu, dass in der NATO Streit über die Ausrichtung des Bündnisses besteht: Hier die neuen Mitglieder, die wollen, dass die NATO Sicherheit vor Russland organisiert und Moskau eindämmt, dort viele alte Mitglieder, die europäische Sicherheit künftig mit Russland gestalten wollen. Keine Debatte darüber, wie das Bündnis wieder zu einem Ort kollektiver sicherheitspolitischer Entscheidungen werden könnte oder wie das Verhältnis zwischen NATO und EU neu justiert werden kann. Verzichtet wurde auch auf eine Diskussion über die objektiven Grenzen des militärischen Krisenmanagements und eine Debatte darüber, dass den Risiken der Gegenwart vor allem mit nicht-militärischen Mitteln begegnet werden muss, über die die NATO gar nicht verfügt.

Diese Zukunftsfragen wurden vertagt. Vielleicht sollen sie im Kontext der Erarbeitung einer neuen NATO-Strategie debattiert werden. Doch ob das gelingt, darf bezweifelt werden. Die Ausarbeitung einer neuen Strategie würde überfrachtet, wenn sie politische Grundfragen oder gar Widersprüche zwischen den Mitgliedern bereinigen soll. Zudem soll die Expertengruppe, die die Strategie ausarbeitet, eng mit dem NATO-Rat zusammenarbeiten. Der wiederum wird von der NATO-Bürokratie beraten und ist deshalb ein Ort, an dem bürokratisches Beharrungsvermögen, die Konkurrenz nationaler Sichtweisen und das Konsensprinzip notwendige Veränderungen leicht blockieren können.

60 Jahre nach ihrer Gründung wird die NATO immer mehr zum Kriegerdenkmal. Nach außen ein beeindruckender Koloss erweist sie sich als innen hohl. Dort frisst der Rost. Vielleicht ist das sogar gut, da es die eigentliche Alternative deutlicher macht: Teure Sanierung oder Abriss.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS. Dieser Artikel entstand unter Mitarbeit von Alexander Lurz und Roman Deckert.