Dezember 2003
Friedensforum 5/03

Neue (Militär-)Strategien
NATO goes Global


Otfried Nassauer


Widersprüchlicher können die Urteile scheinbar nicht sein: In der New York Times vom 2. November fragt Thomas L. Friedman, ob das "Ende des Westens" als Wertegemeinschaft gekommen sei. Am gleichen Tag hält NATO-Generalsekretär Lord Robertson in der Welt fest, zu den wichtigsten Ereignissen seiner Amtszeit gehöre, dass die NATO "eine Familie geblieben ist, die zusammenhält". Beide haben den gleichen Bezugspunkt: Friedman stellt seinem Artikel ein Zitat von Carl Bildt voran. "Unser Bezugsdatum (in Europa) ist nun 1989 und Ihres (in Amerika) ist 2001." Früher sei das gemeinsame Bezugsdatum 1945 gewesen. Friedman hält einen transatlantischen Gipfel für erforderlich, um die daraus resultierenden Differenzen zu überbrücken, bevor die NATO-Kontinente endgültig auseinanderdriften. Robertsons Beweis für den Zusammenhalt der "Familie NATO" ist die Ausrufung des Bündnisfalls durch die Allianz am 12. September 2001. Er glaubt, mit der Erweiterung der NATO um sieben neue Staaten in 2004 und den neuen globalen Interventionsaufgaben sei die Wertegemeinschaft NATO auch für die Zukunft gesichert. Sein Nachfolger müsse vor allem sicherstellen, dass die europäische NATO auch die nötige Flexibilität und die erforderlichen militärischen Fähigkeiten erhalte.

Beide haben aus ihrer Sicht recht. Während Friedman in moderater Form die Erwartungshaltung der NATO-Führungsmacht formuliert, verweist Robertson auf die unter seiner Führung bereits zurückgelegten Schritte auf dem Weg. Dieser Weg besteht - zu großen Teilen - darin, dass die europäischen NATO-Staaten den nationalen amerikanischen Strategiewandel unter George W. Bush nachvollziehen.

Für diesen Wandel steht die NATO-Response Force, eine schnelle Eingreiftruppe, die weltweit agieren und an der Seite amerikanischer Truppen Interventionen jedweder Art, zum Beispiel zur Bekämpfung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen oder des Terrorismus, durchführen soll. Nur ein Jahr ist vergangen, seit die Idee für eine solche Truppe durch US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vorgestellt wurde. Weniger als ein Jahr, seit der Prager NATO-Gipfel im November 2002 beschloss, die Truppe aufzustellen und mittels besonderer Fähigkeitsverpflichtungen zu einem modernen, schnellen Eingreifverband zu machen. Die ersten Einheiten, zunächst nur Luft- und Seestreitkräfte, standen schon zur Vorstellungsfeier am 15. Oktober bereit. Selbst Frankreich ist dabei.

Im Kern geht es darum, dass Europa sich weltweit an amerikanischen Interventionen beteiligen kann - sei es, weil dies auch im europäischen Interesse liegt, oder sei es, weil Washington es als Ausdruck europäischer Solidarität und Lastenteilung einfordert.

Für die USA bietet das große Vorteile: Handelt Washington nicht im Alleingang, so lassen sich solche Interventionen politisch besser rechtfertigen und im Zweifelsfall fällt auch die Kritik an Verletzungen des Völkerrechtes schwächer aus. Denn ein Teil der potentiellen Kritiker ist ja eingebunden, macht mit, muss das Vorgehen verteidigen und hilft damit mit, die Verhaltensregeln der internationalen Gemeinschaft auf dem Wege praktischer Präzedenzfälle zu verändern. Der Kosovo-Krieg ist das Modell, nicht der Irakkrieg. Mitgehangen, mitgefangen - gerade auch bei heiklen Fragen wie dem präventiven Einsatz militärischer Gewalt.

Die Motive der europäischen Regierungen, sich an der NATO Response Force (NRF) zu beteiligen, sind breit gefächert. Die neuen NATO-Mitglieder hoffen, mit vergleichsweise geringem Aufwand einen für Washington unübersehbaren Beitrag zu den Fähigkeiten der NATO zu leisten. Manch altes NATO-Mitglied hofft, durch Mitmachen auch wieder häufiger mitentscheiden zu können. Washington werde multilateral eingebunden, weil ein NATO-Beschluss nötig sei, um die Truppe einzusetzen. Die Bedeutung der NATO für die USA werde gestärkt. Und manch einer beteiligt sich wohl auch, weil er Washington nicht jeden Wunsch abschlagen möchte. Transatlantische Schadensbegrenzung.

Doch die Probleme, die mit der NATO-Response Force verbunden sind, sind schwerwiegend. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen: Der Aufbau der NRF steht in einer latenten, wenn nicht gar offenen und direkten Konkurrenz zu dem Bemühen der europäischen Staaten, im Rahmen der EU eigene Fähigkeiten des militärischen Krisenmanagements aufzubauen. Kapazitäten, die sowohl im Verbund mit der NATO eingesetzt werden können, als auch autonom. Konkurriert wird um knappe finanzielle und militärische Ressourcen, aber auch um Entscheidungsbefugnisse und politisch-militärische Handlungsspielräume. Es geht um die Möglichkeit Europas, eigene sicherheitspolitische Ansätze und Vorstellungen umzusetzen.

Die neue NATO-Truppe benötigt substantielle Ressourcen. Um 21.000 Soldaten in einem sechsmonatigen Bereitschafts- und Einsatzzyklus zu halten, sind mindestens drei Kontingente dieser Größe nötig - also zusammen rund 60.000 Soldaten. Zwei dieser drei Kontingente stehen nicht für andere Aufgaben zur Verfügung. Eines, weil es für sechs Monate im Einsatz oder in Bereitschaft steht. Das andere, weil es sich darauf vorbereitet. Viele europäische Staaten planen ihren Beitrag zur NRF aus dem gleichen Kräftebestand, den sie für die europäischen Krisenmanagementkräfte vorgesehen haben. Das hat aber zur Folge, dass Kräfte, die für die NATO in Einsatz oder Bereitschaft stehen, nicht zugleich der EU zur Verfügung stehen werden. Der NATO-Eingreifverband wird fast vollständig aus europäischen Verbänden bestehen. Vom Umfang her macht er etwa ein Drittel der europäischen Krisenmanagementkräfte aus - das beste Drittel.

Um diese potentielle Konkurrenz abzumildern, haben sich die Beteiligten etwas einfallen lassen. Die Länder, die Truppen für den NATO-Verband stellen, können ihre Zusage unter "besonderen Umständen" zurücknehmen. Z.B. wenn die Einheiten für nationale Zwecke oder einen EU-Einsatz benötigt werden. So steht es nach Angaben des Verteidigungsministeriums im Gesamtkonzept für die neue Truppe.

Doch das wirft eher neue Fragen auf, als es alte löst: Bedeutet das, dass die NATO-Eingreiftruppe nur dann vollzählig einsatzbereit ist, wenn kein Staat von dieser Möglichkeit Gebrauch macht? Kann es passieren, dass NATO und EU künftig nach dem Motto verfahren, wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Dass beide versuchen, den Bedarf an nationalen Kontingenten möglichst früh anzumelden? Dann könnte sich schon deshalb die Neigung beider Organisationen verstärken, militärische Krisen-Lösungen ins Auge zu fassen.

Problematisch dürfte auch ein anderer Aspekt werden. Die Kontingente der NATO Response Force sollen so ausgestattet werden, dass sie in jedem Fall mit US-Truppen zusammenwirken können. Die transatlantische technologische Lücke soll geschlossen werden. Dies kann angesichts der knappen Zeitvorgaben nur gelingen, wenn die europäischen Einheiten weitgehend nach amerikanischem Vorbild modernisiert werden. Das aber hat dann zur Folge, dass die Lücke künftig nicht mehr zwischen den USA und Europa, sondern vor allem innerhalb der europäischen Krisenmanagementkräfte und sogar der nationalen Streitkräfte klaffen wird. Vermeiden ließe sich eine solche Entwicklung nur, wenn auch der Rest der europäischen Streitkräfte nach amerikanischem Vorbild modernisiert würde. Das aber würde nicht nur sehr teuer. Es wäre auch nur möglich, wenn ein erheblicher Teil der Ausstattung in den USA eingekauft würde.

Die Folge: Mit der NRF deutet sich an, dass europäische Politiker ihren Steuerzahlern bald erklären müssen, warum sie künftig 60.000 der leistungsfähigsten Soldaten Europas mit modernster und oft in den USA gekaufter Ausstattung zwar bezahlen dürfen, diese Soldaten auch bei von Washington gewünschten Interventionen oft mit von der Partie sind, aber für europäische Einsätze oft nicht bereitstehen. Oder anders formuliert: Lord Robertson hat seine Mission erfüllt: Der Umbau der NATO und ihre Anpassung an die veränderten sicherheitspolitischen Vorstellungen der USA ist eingeleitet. Unumkehrbar vielleicht. 2001 soll das Bezugsdatum werden, nicht 1989.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).