Neues Deutschland
07. März 2006


Ränkespiele um die Macht in Kiew

Wahlbündnisse vor dem ersten ernsthaften »Revolutionstest« in der Ukraine 

von Manfred Schünemann

In Kiew geben ausländische Politiker einander derzeit wieder die Klinke in die Hand. Das neue Interesse an der Ukraine ist nicht zufällig: Am 26. März sind Parlamentswahlen und eine Bestätigung der »Orangenen Revolution« ist durchaus nicht sicher.

In der Bevölkerung ist die Begeisterung über die »Revolution« von Ende 2004 in Zweifel und Ernüchterung umgeschlagen. Sorge bereitet auch die Zerstrittenheit im Lager der einstigen Revolutionäre. In Meinungsumfragen liegt die »Volksunion Unsere Ukraine« – das Bündnis um Präsident Viktor Juschtschenko – mit 12 bis 14 Prozent abgeschlagen auf dem dritten Platz. Dem »Block Julia Timoschenko« werden 18 bis 20 Prozent vorausgesagt, doch an der Spitze liegt derzeit die Partei der Regionen unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch mit etwa 25 Prozent. Da also keine der Parteien mit einer eigenen Mehrheit in der Werchowna Rada rechnen kann, ist das Ringen um Koalitionspartner zum Hauptfeld des politischen Ränkespiels geworden – zumal die stärkste Parlamentsfraktion künftig das Recht hat, den neuen Premierminister vorzuschlagen.

»Unsere Ukraine« mit dem derzeitigen Regierungschef Juri Jechanurow als Spitzenkandidat bemüht sich seit Wochen um eine Vereinbarung mit dem »Block Julia Timoschenko«. Doch die populäre Timoschenko, die schon nach wenigen Monaten von Juschtschenko als Ministerpräsidentin entlassen worden war, ist bisher nicht zum Kniefall zu bewegen. Sie hofft auf das Zustandekommen einer Koalition mit anderen liberal-zentristischen Parteien und Teilen des jetzigen Regierungslagers. Diese Hoffnung scheitert bisher an ihrer Forderung, wieder das Amt der Regierungschefin zu übernehmen. Zu groß ist bei in- und ausländischen Geldgebern die Furcht vor der Unberechenbarkeit Timoschenkos, deren Kompetenzen als Ministerpräsidentin gemäß der geänderten Verfassung größer wären als die des Präsidenten.

Das Juschtschenko-Lager sondiert unterdessen andere Möglichkeiten und schließt auch ein Bündnis mit der einst als »Wahlfälscherpartei« beschimpften Partei Janukowitschs nicht aus. Der Expremier wiederum hofft auf einen überzeugenden Wahlsieg und auf eine Neuauflage des Bündnisses jener Parteien, die unter dem ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma das Regierungslager bildeten.

Der Ausgang des Koalitionspokers ist noch völlig offen. Entscheidend könnte sein, ob sich eine Lösung findet, dem Machtanspruch Julia Timoschenkos Genüge zu tun, ohne die jetzige Regierungspolitik zu gefährden. Offen wird deshalb schon über eine neuerliche Verfassungsänderung zu Gunsten der Präsidialmacht spekuliert, um Unwägbarkeiten in der Politik des Regierungschefs auszugleichen.

Das Ringen um Parlamentsmehrheiten ist Teil der anhaltenden Auseinandersetzungen über die innen- und außenpolitischen Orientierung der Ukraine. Die einseitige Ausrichtung nach Westen, wie sie insbesondere von nationalistisch-konservativen Regierungskreisen betrieben wird, hat nicht nur das Verhältnis zu Russland ernsthaft belastet, sondern auch die Gegensätze zwischen den Regionen geschürt. Auf der Krim und in ostukrainischen Gebieten will man Russisch wenigstens zur »regionalen Amtssprache« machen. Betriebe in diesen Gebieten versuchen, Restriktionen im Handel mit Russland zu umgehen. Besonders aber das Streben nach einem raschen NATO-Beitritt stößt in der Bevölkerung auf Missbehagen. Nach Umfragen sind im Osten der Ukraine fast 80 Prozent der Bewohner gegen eine NATO-Mitgliedschaft, im Landeszentrum mehr als die Hälfte. Selbst in der Westukraine ist nur etwa ein Drittel der Bevölkerung für einen raschen Beitritt.

Nicht nur linke Oppositionelle glauben deshalb, dass die Zuspitzung des ukrainisch-russischen Erdgasstreits Teil einer Kampagne mit dem Ziel war, die Ukrainer von der Notwendigkeit eines raschen NATO-Beitritts zu überzeugen. »Dafür braucht man den Konflikt mit Russland, je schärfer – desto besser«, argwöhnt der frühere Vizeparlamentspräsident Viktor Medwedtschuk.

Die Parlamentswahlen sind der erste ernsthafte Stimmungstest nach dem Personalwechsel an der Staatsspitze. Mit Ausnahme der Kommunisten (denen 5 Prozent der Stimmen zugebillligt werden) und linker Splitterparteien sind jedoch alle politischen Kräfte – mit gewissen Modifizierungen hinsichtlich des Verhältnisses zu Russland – an einer Fortsetzung der gegenwärtigen Regierungspolitik interessiert. Durch ein verändertes Wahlgesetz, das nur noch Listenwahl zulässt, und die »traditionelle« administrative Absicherung durch Gebiets- und Kreisverwaltungen (diesmal von den ausländischen Beobachtern gewiss wohlwollend betrachtet) werden die Wahlen zur Stabilisierung des bestehenden politischen Systems beitragen.