SPW
Ausgabe 5, September/Oktober 2005


UN-Reform auf dem Prüfstand

von Dr. Alexander Neu

Die Vereinten Nationen (UNO) stehen derzeit verstärkt im Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit. Der Grund hierfür sind die geforderten Reformen für das globale Sicherheitskollektiv, um dieses Fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu machen. Die geforderten Reformen blieben jedoch auf dem UN-Gipfel mit September dieses Jahres bereits im Anfangsstadium stecken, da sich die internationale Staatengemeinschaft nicht auf notwendige Kompromisse einigen konnten. In dem Schlussdokument ist weder eine einheitliche Definition des Terminus Terrorismus enthalten noch konnte eine Einigung über die Nicht-Verbreitung und Abrüstung von Atomwaffen erzielt werden. Auch im Bereich der Entwicklungspolitik gibt es keine verbindliche Selbstverpflichtung. Geeinigt hat man sich lediglich auf den unverbindlichen Minimalkonsens des Wunsches vieler entwickelter Staaten, 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die Entwicklungshilfe auszugeben.

Im Zentrum der Analyse stehen allerdings nicht die Reformvorschläge und Ergebnisse des Gipfels. Analysiert werden soll vielmehr die Vertragstreue einiger für das Funktionieren der UNO relevanter Akteure - hier die NATO, die EU sowie die USA – hinsichtlich des bestehenden UN-Systems.

Denn sämtliche strukturelle und normative Reformbemühungen werden die oft kritisierte mangelnde Effizienz der UNO fortschreiben, wenn sie nicht mit entsprechender politischer Substanz durch die sie tragenden nationalstaatlichen Akteure ausgefüllt werden. Dass bedeutet nichts weniger als das sich die UN-Mitgliedsstaaten bedingungslos den Normen der UN-Charta unterwerfen. Ein Akt, zu dem sich alle Staaten mit Beitritt zur UNO verpflichten.

Zunächst werden die normativen Grundlagen des UN-Sicherheitskollektivs vorgestellt. Diesen werden dann der Nordatlantikvertrag (NATO), das "Strategische Konzept des Bündnisses" (NATO), die "Nationale Sicherheitsstrategie" der USA sowie die "Europäische Sicherheitsstrategie" der EU auf ihre Vertragstreue hin gegenübergestellt.

 

Normative Grundlagen des UN-Sicherheitskollektivs

Die globale UN-Rechtsordnung formuliert bestimmte Bedingungen, um ihre Funktionstüchtigkeit zu ermöglichen:

Eine der wichtigsten – auch für diese Untersuchung relevante – UN-Norm stellt die Vorrangklausel Art. 103 der UN-Charta dar. Sie stellt fest, dass im Falle von internationalen Verpflichtungen und anderen internationalen Verträgen (z. B.: regionale Abmachungen), deren Normen im Widerspruch zur UN-Charta stehen oder aber sie relativieren, diese sich unterzuordnen haben bzw. keine Rechtsgültigkeit besitzen, da sie ansonsten UN-Recht brechen. Dieses Prinzip ist in etwa mit der innerstaatlichen Verfassungshierarchie zwischen dem Primat der Bundesverfassung gegenüber den Republiksverfassungen in föderal strukturierten Staaten vergleichbar, um das Funktionieren des Gesamtstaates sicherzustellen.

Eine weitere zentrale Norm stellt Art 24 Abs. 1 dar. Sie definiert die Kernaufgabe der UNO, nämlich die Gewährung kollektiver Sicherheit: Der UN-Sicherheitsrat erhält die "Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit". Schließlich wird dem UN-Sicherheitsrat das ausschließliche Recht zuerkannt, eine "Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung" festzustellen (Art. 39), bzw. entsprechende Maßnahmen einschließlich der Anwendung von Gewalt (Art. 42) gegen den Rechtsbrecher anzuordnen, woraus dem Sicherheitsrat das Gewaltmonopol erwächst. Ferner sollen dem UN-Sicherheitsrat militärische Kapazitäten – also das Schwert zur Durchsetzung seines kollektiven Schutzauftrages - seitens der UN-Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt werden (Art. 43 bis Art. 47).

Dieses Schwert wurde jedoch von Anfang an nicht dem UN-Sicherheitsrat an die Hand gegeben, da sich die Staaten nicht bereit erklärten, auch faktisch Truppen der UN unterzuordnen. Hierdurch kamen die Staaten ihrer Verpflichtung nicht nach, wodurch der UN-Sicherheitsrat zum rein formalen und somit impotenten Inhaber des Gewaltmonopols degradiert wurde, der in Anlehnung an Stalins Machtdefinition, wie viel Panzer denn der Papst habe, nicht die materielle Basis besitzt, das formale Gewaltmonopol auch durchzusetzen.

Wohlwissentlich wurden zwei Ersatzklauseln (Art. 48 & Art. 53. Abs. 1) formuliert, die es dem UN-Sicherheitsrat erlaubt, einzelne Staaten oder regionale Einrichtungen mit deren Einverständnis "unter seiner Autorität in Anspruch" zu nehmen.

Ungeklärt blieb hierbei die präzise Definition dieser "Autorität", d.h., ob die Truppen für die militärischen Zwangsmaßnahmen unter internationalem Oberkommando (UN-geführte) oder unter nationalem Oberkommando (UN-mandatierte) operieren würden.

Die Antwort darauf lieferten alsbald die USA, die die Befreiung Kuwaits durch eine multinationale Truppe unter ihrem Oberkommando durchführten. Hierdurch büßten die UNO die Kontrolle über die weitere militärische und politische Entwicklung hinsichtlich des Iraks ein und wurden de facto zum Mandatsgeber degradiert.

Was zu einer Sternstunde der UNO nach dem Ende des sie immer wieder blockierenden Kalten Krieges werden sollte, nämlich endlich die Erlangung der Handlungsfähigkeit, endete vielmehr in einer puren Machtdemonstration der USA, die sich lediglich - oder betrachtet man die weitere Entwicklung zumindest noch - formal um eine Legitimation der UNO bemühte.

Diese Ersatzklauseln, die dem UN-Sicherheitsrat die militärische Handlungsfähigkeit quasi indirekt garantieren soll, erweisen sich realiter als Axt gegen die Fundamente der UNO selbst: Die indirekte militärische Handlungsfähigkeit der UNO vermittelt über "willige Staaten" bedeutet nichts anderes als keine Kontrolle und somit keine Handlungsfähigkeit der UNO. Die operative Umsetzung wird von den "willigen Mandatsnehmern" gemäß ihren strategischen und nationalen Interessen definiert. Der hierdurch stattfindende Substanzverlust des Multilateralismus bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung formaler multilateraler Mechanismen bedeutet eine Rückkehr des anarchischen Staatensystems auf besonders perfide Weise: Internationale Rechtsstaatlichkeit wird zunächst sinnentleert und sukzessive zum Knebelinstrument der Großmächte gegenüber schwächeren Staaten umfunktionalisiert.

 

Nordatlantikvertrag

Der Nordatlantikvertrag ist das Statut der NATO und wurde 1949 vier Jahre nach Gründung der UNO verabschiedet.

Insbesondere Artikel 1 des Nordatlantikvertrages verdient für die Analyse eine erhöhte Aufmerksamkeit: "Die Parteien verpflichten sich, (...) in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind".

Diese Aussage lässt ausreichend Interpretationsspielraum, da nicht eindeutig geklärt ist, was alle Ziele der UN im Einzelnen sind. Es könnte bereits als ein Indiz für eine restriktive Interpretation des Gewaltverbotes verstanden werden. Diese reduziert die zu verbietende Gewaltformen, auf jene Bereiche, die dazu dienen, die "territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen" in Frage zu stellen. Alle übrigen Gewaltformen zwischenstaatlicher Art seien demnach – sofern sie in Übereinstimmung mit den Prinzipien der UN-Charta stehen - auch ohne Sicherheitsratsresolution UN-Charta-konform. Es wird deutlich, dass der eigentlich praktizierte Interpretationsansatz des umfassenden Gewaltverbotes, bei dem zwei Formen – die die "territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates" berühren könnten – lediglich als besonders hervorhebenswert gelten, nun in ein selektives Gewaltverbotsprinzip verkehrt wird: Alle Gewaltformen, die nicht expressis verbis verboten sind, sind im Umkehrschluss erlaubt, sofern sie den nicht näher bestimmten Zielen der UN-Charta entsprechen bzw. diesen nicht widersprechen. Dieser Interpretationsansatz ist vor allem im angelsächsischen Völkerrecht vermehrt zu vernehmen.

Während das umfassende Gewaltverbotsprinzip aufgrund klarer Regeln hinsichtlich der Anwendung von legaler Gewalt eindeutig ist, öffnet das selektive Gewaltverbotsprinzip der Gewaltanwendung Tür und Tor und unterminiert auf diese Weise das Gewaltverbot durch eine in sich dynamisierende Ausnahmetendenz sukzessive.

 

"Das Strategisches Konzept Des Bündnisses"

Im April 1999 verabschiedete die NATO eine Neuauflage des "Strategischen Konzept des Bündnisses". Darin wird die "Autorität" des UN-Sicherheitsrates bei der Ausführung militärischer Operationen geltend gemacht. Allerdings wird mit weiteren Erklärungen diese "Autorität" in einen breiten Interpretationsansatz gerückt: Das Bündnis wird "bei der Erfüllung seines Ziels und seiner grundlegenden Sicherheitsaufgaben (...) die friedliche Beilegung von Streitigkeiten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen anstreben". Die Wortwahl "anstreben" bedeutet jedoch keine definitive Unterordnung, sondern lediglich, "wenn möglich mit, wenn nötig ohne UNO, womit das UN-Gewaltmonopol offen in Frage gestellt wird. Eine weitere Formulierung zielt ebenso auf eine Relativierung des UN-Gewaltmonopols zu Gunsten der NATO: Das "Strategische Konzept spricht hier von der "primären Verantwortung", statt der "Hauptverantwortung" (Art. 24 Abs. 1 UN-Charta) der UNO für die "Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit". Ein Differenzierungsversuch beider Begriffe vermag zunächst ein wenig theoretisch wirken. Betrachtet man indes den realpolitischen Kontext, dass nämlich das "Strategische Konzept" exakt zu jenem Zeitpunkt verabschiedet wurde, als die NATO Jugoslawien bombardierte, so gewinnt die Interpretation der Formulierung "primäre Verantwortung" doch an Konturen: Es wird als eine Art Reserveverantwortung der NATO für die Wahrung kollektiver Sicherheit interpretiert für den Fall, dass die UNO ihre Funktion gemäß der Erwartung des Westens nicht gerecht wird.

Die in Art. 24 UN-Charta gewählte Formulierung der "Hauptverantwortung" bedeutet hingegen nicht, dass den Staaten eine Reserveverantwortung für die "Wahrung" der kollektiven Sicherheit dergestalt zugewiesen wird, dass diese im Falle eines Handlungsblockade des UN-Sicherheitsrats die Verantwortung und das Handeln der UNO eigenmächtig substituieren. Diese Interpretation erschließt sich definitiv nicht aus dem Kontext der UN-Charta. Im Gegenteil: Zwar wird die Regelung sicherheitspolitischer Probleme gemäß Art. 52 UN-Charta auch subsidiären Strukturen ermöglicht, jedoch nur unter explizitem Ausschluss militärischer Maßnahmen (Art. 53). Der Terminus "Hauptverantwortung" muss im Kontext des Art. 2 Abs. 3 & 4 der UN-Charta interpretiert werden: Danach liegt die "Nebenverantwortung" bei den Staaten selbst. Nämlich in Form des ausnahmslosen Verzichts auf das ius ad bellum als Angriffsvariante, demnach sie an der "Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" durch die ausschließliche Anwendung "friedlicher Mittel" bei "internationalen Streitigkeiten" beitragen.

Die vermeintliche Reserveverantwortung der NATO bricht UN-Recht materiell (Bruch des UN-Gewaltmonopols durch den Jugoslawien-Krieg) und formell (Bruch des Primats der UNO bzw. des UN-Rechts gemäß Art. 103).

 

Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA

Die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) wurde im September 2002 als neue Sicherheitsdoktrin der USA verkündet. Die NSS verweist auf eine US-amerikanische Außenpolitik, die "neue, produktive internationale Beziehungen" eingehe und die "bestehenden neu" definiere. Es wird deutlich, dass nicht nur punktuelle "Korrekturen" der bestehenden, sondern der Prozess zu einer neuen Weltordnung nach US-amerikanischem Gusto eingeleitet werden soll. Die hierzu angewandte Methode der unilateralen Deregulierung der internationalen Beziehungen und der damit einhergehenden Renationalisierung sicherheitspolitischer Entscheidungen und sogar Rechtsetzungsansprüchen stellt nichts weniger als das gegenwärtige internationale Rechtssystem zur Disposition. Zu nennen sei hier beispielsweise die Verweigerung sich dem Internationalen Strafgerichtshof zu unterwerfen, damit die "Bemühungen zur Wahrnehmung unserer Sicherheitsverpflichtungen in der Welt (...) nicht durch Ermittlungen, Untersuchungen und Verfolgung durch den Internationalen Gerichtshof behindert werden (...)".

Die UNO werden ganze zweimal und inhaltlich nebensächlich in dem umfassenden Dokument genannt.

Im Mittelpunkt der NSS steht der internationale Terrorismus als zentrale sicherheitspolitische Herausforderung. Mit dem Anspruch der globalen Führerschaft unter Verwendung repressiver Mittel, stellen sich die USA in der Hierarchie über die UNO. Hierbei pendelt die NSS zwischen einem scheinbaren Multilateralismus und einem dezidierten Unilateralismus.

Hinsichtlich des scheinbaren Multilateralismus wird das völkerrechtskonforme Präemptionprinzip um die Bedeutung der völkerrechtlich nicht zulässigen Prävention erweitert: "(...) desto zwingender das Argument für antizipatorische Selbstverteidigung, selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind angreifen wird". Der bislang gültige Unterschied zwischen Präemption und Prävention wird angesichts neuer Bedrohungsformen (internationaler Terrorismus) und unkonventioneller Kampfmethoden ohne Vorwarnzeiten, auf diese Weise verwischt. Auch wird mit der räumlichen und zeitlichen Offenheit, dem Angriffskrieg Tür und Tor geöffnet.

Der dezidierte Unilateralismus wiederum findet seine Anwendung für den Fall, das den USA die Unterstützung seitens internationaler Organisationen beim Kampf um die internationale Sicherheit verwehrt bleiben. Dann werden die USA "auch nicht zögern zu handeln, wenn es notwendig werden sollte, unser Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen (...)". Auch hier wird deutlich, dass den internationalen Organisationen, und gemeint ist insbesondere die UNO, nicht die "Hauptverantwortung", sondern bestenfalls eine kooperierende und schlechtestenfalls eine dienende oder gar irrelevante Funktion für die Wahrung der kollektiven Sicherheit zu Teil wird. Die signifikante Devaluierung der UNO, manifestiert sich letztlich in Kapitel VIII der NSS, in der die "Entwicklung einer Agenda für die Zusammenarbeit mit anderen wichtigen Machtzentren der Welt" skizziert wird. Dort werden neben den Großmächten und einigen besonders treuen Verbündeten wie Japan, Südkorea und Australien, vier internationale Organisationen, die NATO, die EU, die ASEAN und die APEC, nicht jedoch die UNO genannt.

Es bleibt festzustellen, dass die NSS sich nicht nur nicht dem UN-Völkerrecht unterzuordnen gedenkt, sondern dass sie vielmehr auf deren Ablösung durch eine US-amerikanische Weltordnung abzielt.

Wie die konzeptionelle Reaktion der EU ausschaut, zeigt im Folgenden die Analyse der Europäischen Sicherheitsstrategie.

 

Die Europäische Sicherheitsstrategie

Die Europäische Union gab sich im Dezember 2003 eine eigene Europäische Sicherheitsstrategie (ESS). Da die EU selbst eine regionale Organisation auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge darstellt, und sie zugleich der am stärksten verrechtlichte Raum der Welt mit bisweilen supranationalen Strukturen ist, weiß sie um die Relevanz implementierter – kurzum gelebter - Normen wie kein anderer Akteur. Angesichts dessen müsste die ESS im Besonderen Maße sich den UN-Normen und deren Umsetzung verpflichtet fühlen.

Tatsächlich bekundet die ESS eine proaktive UN-Politik, in dem sie deren "Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" versichert.

Obgleich die ESS keine Bereitschaft zeigt, der UNO Truppen unter UN-Befehl (UN-geführte Friedenserzwingung) zur Verfügung zu stellen, um das formale UN-Gewaltmonopol auch materiell zu unterfüttern, so erklärt sie dennoch, die UNO in deren Kampf "gegen Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der Welt" zu unterstützen. Hierbei unterstreicht sie auch ihr Pflichtgefühl, einer "verstärkten Unterstützung" der UNO bei "kurzfristigen Krisenbewältigungseinsätzen". Im Gegensatz zur NSS zielt die ESS nicht auf eine neue Weltordnung durch Eliminierung der gegenwärtigen internationalen Rechtsordnung ab, sondern fordert die "Wahrung und Weiterentwicklung des Völkerrechts" im Einklang mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen.

Und exakt hier im Kontext der Handhabung der neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen manifestieren sich Schnittmengen zwischen der ESS und der NSS: Die präventive Kriegsführung. Die ESS fordert die Entwicklung einer "Strategie-Kultur (..), die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert". Die Gefahren von Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie "humanitäre Krisen" können durch "präventives Engagement" reduziert werden.

Allerdings kollidiert die Forderung nach präventiven militärischen Operationen zwecks Eindämmung neuer sicherheitspolitischer Gefahren mit der Selbstverpflichtung der "Wahrung des Völkerrechts". Denn gemäß Art. 51 UN-Charta stellt die militärische Prävention kein Bestandteil des "naturgegebenen Rechts zur Selbstverteidigung" dar, sondern fällt unter die Kategorie des absoluten Gewaltverbots (Art. 2 Abs. 4) und ist somit als klassischer Angriffkrieg zu klassifizieren. Dem Selbstverteidigungsbegriff der UN-Charta liegt ein restriktives territorialgebundenes Verständnis zu Grunde. Dieses wird jedoch von der ESS gleichsam der NSS mit Verweis auf die besondere Qualität der neuen sicherheitspolitischen Risiken unterminiert: "Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen".

Die ESS versucht diesen Widerspruch offensichtlich mit Verweis auf die Notwendigkeit "dass das Recht mit Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globaler Erwärmung Schritt" halten müsse aufzulösen. Hierbei "übersehen" die Autoren der ESS, dass auf diese Weise das UN-Gewaltmonopol ungeachtet aller UN-treue Bekundungen nicht nur faktisch, sondern auch formal ausgehebelt wird.

 

Fazit

Angesichts der diskutierten Fälle wird deutlich, dass der Westen bislang sein eigenes Projekt der kollektiven Sicherheit in Form eines globales Sicherheitskollektiv selbst im Wesentlichen verhindert. Weder in dem "Strategischen Konzept Des Bündnisses" noch in den Doktrinen wurden außer Lippenbekenntnissen der wirkliche Wille erkennbar, sich dem UN-System bedingungslos zu unterwerfen. Rhetorisch geschickt verpackte Formulierungen verbergen unilaterale Hintertürchen. Die allenthalben zu vernehmende Kritik an der mangelnden Funktionalität und Effizienz der UNO ist nicht ihr eigenes Versäumnis, da sie kein selbstständiger Akteur ist. Es ist eindeutig der fehlende Wille der sie tragenden relevanten Akteure, ihr die erforderlichen und Entscheidungskompetenzen zu verleihen. Darüber hinaus stellt die Kritik der Großmächte an der mangelnden Funktionalität der UNO einen Versuch dar, ihre unilateralen Maßnahmen als notwendige Ersatzmechanismen zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund stellen die Reformbemühungen der UNO mit dem Ziel der Herbeiführung effektiverer Strukturen und erweiterter Kompetenzen zwecks einer gerechteren Weltordnung, bestenfalls Wunschdenken dar.

Schlimmstenfalls dienen die Reformen dazu, den Unilateralismus der Großmächte zu belohnen, in dem diese künftig über das multilaterale Instrument ihren Handlungsspielraum (Stichwort: wachsendes Interventionsspektrum) auch mit Unterstützung der UNO erweitern können. Sollte das internationale Recht angesichts der neuen sicherheitspolitischen Risiken, wie von der "ESS" unter Berücksichtigung des Präventivinstituts gefordert, "modernisiert" werden, so liefe dies auf ein Ermächtigungsgesetz zur "weltweiten präventiven Selbstverteidigung" hinaus. Auf diese Weise würde das ius ad bellum, welches als Nicht-Selbstverteidigungsvariante ausschließlich dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten ist, wieder zu den Nationalstaaten zurückkehren, was unzweifelhaft einen zivilisatorischen Rückschritt bedeutete.


 

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BITS und als freier Journalist tätig.