Tagesspiegel
30. April 2007


Russische Perspektiven

Putin droht aus dem KSE-Vertrag auszusteigen, der das Militär-Gleichgewicht in Europa regelt. Warum?

von Otfried Nassauer

KSE-VERTRAG - Gut gerüstet
Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) wurde 1990 zwischen den Mitgliedern der Nato und des Warschauer Pakts geschlossen. Er legte für beide Militärblöcke verbindliche Obergrenzen für Waffensysteme fest. 1992 wurde der Vertrag durch die KSE-1a-Vereinbarung um Personalobergrenzen für die Streitkräfte ergänzt. Beide Vereinbarungen gelten bis heute.
Bei Auflösung der Sowjetunion und der Tschechoslowakei wurden die je zulässigen Obergrenzen auf die neu entstehenden Staaten aufgeteilt. Mit der Erweiterung der Nato um Polen, Tschechien und Ungarn entstand die Notwendigkeit, den KSE-Vertrag zu modernisieren. Denn erstmals waren ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes der Nato beigetreten. 1999 war dann ein adaptierter Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (AKSE) unterschriftsreif. Er legt Obergrenzen für die einzelnen Staaten fest, die geringfügig niedriger sind als die des KSE-Vertrages. Zudem wurden in Form einer Flankenregelung Obergrenzen für den Nord- und Südosten Russlands festgeschrieben, um den Sicherheitsbedenken der baltischen Republiken, Georgiens und Moldawiens Rechnung zu tragen. Im Gegenzug erklärten sich die Nato-Staaten bereit, keine substanziellen Truppenstationierungen in den neuen Mitgliedstaaten vorzunehmen. Russland versprach auch den Abzug seiner Truppen aus Georgien und Moldawien. Das AKSE-Abkommen ist nicht in Kraft. Russland hat es ratifiziert. Die Nato will das erst tun, wenn Russland aus Georgien und Moldawien vollständig abgezogen ist.
Das AKSE-Abkommen reflektiert die zweite Nato-Erweiterungsrunde noch nicht. Russland fordert daher eine erneute Überarbeitung des Vertrags, damit zum Beispiel auch für die baltischen Republiken Obergrenzen für deren Truppen und zulässige Stationierungen durch die Nato festgelegt werden.


Wieder einmal hat Russlands Präsident Wladimir Putin mit wenigen Worten die Nato in helle Aufregung versetzt. In seiner Rede zur Lage der Nation deutete er an, sein Land könne sich aus den Verträgen über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) zurückziehen. Das Vertragssystem begrenzt vom Atlantik bis zum Ural den Personalumfang der Streitkräfte und die wichtigen Großwaffensysteme zu Lande und in der Luft: Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artilleriegeschütze, Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge (siehe Kasten).

Putin verkündete "ein Moratorium der russischen Umsetzung des KSE-Vertrages bis alle Nato-Staaten ihn ratifizieren und beginnen, sich strikt daran zu halten – so wie es Russland bereits heute tut." Er schlug vor, "das Thema im Nato-Russland-Rat zu diskutieren." Werde "durch Verhandlungen kein Fortschritt erzielt", so werde Moskau "die Möglichkeit prüfen, seine Verpflichtungen aus dem KSE-Vertrag zu beenden." Binnen eines Jahres solle eine Lösung gefunden werden. Prompt verlangte die Nato von Moskau eine Erklärung und rief Russland zur umfassenden Einhaltung seiner vertraglichen Verpflichtungen auf.

Überraschend kommt Russlands Vorstoß nicht. Seit Jahren fordert Moskau, dass endlich alle Nato-Staaten dem KSE-Regime beitreten. Slowenien und die drei baltischen Staaten sind noch nicht Mitglied. Moskau drängt auf Verhandlungen über eine neue Überarbeitung des KSE-Vertrages, mit der dieser an die zweite Erweiterung der Nato angepasst werden soll. Schon anlässlich der Münchener Sicherheitskonferenz 2004 griff der russische Verteidigungsminister, Sergej Iwanow, das Thema auf: "Ist der KSE-Vertrag wirklich weiterhin ein Eckpfeiler der Europäischen Sicherheit? ... Oder wird er zu einem weiteren Relikt des Kalten Krieges, wie der ABM-Vertrag einmal genannt wurde", fragte er in Anspielung auf den Vertrag über ein Verbot der Raketenabwehr, den die USA einseitig kündigten. Iwanow warnte schon damals: Eine "Schwächung der Kontrollregime für konventionelle Waffen in Europa stimme nicht mit den Interessen der russischen nationalen Sicherheit überein." Sie sei aber auch "kein irreparabler Verlust für Russlands Sicherheit, wie einige meinen könnten." Iwanow regte an, im Nato-Russland-Rat zügig ein Mandat für neue Verhandlungen zu erarbeiten, mit denen das KSE-Regime an die zweite Erweiterung der Nato angepasst werden soll.

Bis heute haben die Nato-Staaten nicht reagiert. Im Gegensatz zu Russland, Kasachstan, Belarus und der Ukraine haben sie bislang das AKSE-Abkommen – die Neufassung des KSE-Vertrags – nicht ratifiziert. Ihre Begründung: Als das AKSE-Abkommen 1999 in Istanbul vereinbart wurde, wurden zugleich die Istanbuler Verpflichtungen verabschiedet. Darin erklärte sich Russland bereit, seine verbliebenen Truppen aus Moldawien und Georgien abzuziehen. Damals einigte sich die Nato intern, das neue Abkommen erst zu ratifizieren, wenn dieser Abzug umgesetzt sei. Erst dann werde auch der Beitritt weiterer Staaten zum KSE-Regime möglich. Denn der ursprüngliche KSE-Vertrag kenne keine Klausel für den Beitritt neuer Mitglieder. Diese gebe es erst im geänderten AKSE-Vertrag.

Russland erkennt diese Argumentation nicht an. Die Ratifizierung durch die westlichen Staaten sei nur politisch, aber nicht rechtlich an die Erfüllung der Istanbuler Verpflichtungen durch Russland gebunden. Russland habe seine Verpflichtungen bereits zum Großteil erfüllt. Mit Georgien habe man sich über einen Abzugsplan bis 2008 geeinigt und den bereits weitgehend umgesetzt. In Moldawien seien nur noch 500 Soldaten zur Bewachung eines Depots eingesetzt, das keinesfalls unbeaufsichtigt bleiben könne.

Auch unter den Nato-Staaten gibt es unterschiedliche Auffassungen, wann Russland seinen Verpflichtungen hinreichend nachgekommen sei, um mit der Ratifizierung des AKSE-Vertrages zu beginnen. Deutschland akzeptiert, dass die russischen Truppen in Georgien und Moldawien durch Vereinbarungen mit Russland teilweise als Peacekeeper betrachtet werden können. Moskau habe also seine Zusagen im Kern erfüllt. Die USA dagegen machen einen Abzug aller Soldaten zur Voraussetzung und zeigen wenig Interesse an einem neuen KSE-Prozess. Vertragliche Rüstungskontrolle ist dort derzeit nicht beliebt. Die baltischen Staaten verzichten gerne auf einen Beitritt, da sie so gar keinen Militär-Beschränkung unterliegen.

Mit der Ankündigung, das KSE-Vertragssystem notfalls in Gänze in Frage zu stellen, bringt Putin die Nato nun unter Zugzwang. Sie muss diskutieren, was ihr dieser Eckpfeiler europäischer Sicherheit wert ist. Beim Nato-Russland-Rat im Mai wird Moskau seine Position erläutern und seine Forderungen erneut vortragen. Nachdrücklich gestützt auf das Bekenntnis, Moskau könne auch ohne den Vertrag leben. Das aber kann nicht im Interesse der europäischen Nato-Mitglieder sein. Vor allem sie haben ein Interesse daran, dass Russland weiterhin ins KSE-System eingebunden ist. Daher ist das russische Verhandlungsangebot für sie interessant. Heftige Diskussionen mit den USA sind nun angesagt – und dagegen hat Putin sicher nichts einzuwenden.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS