Tagesspiegel
9. Oktober 2001


Militär contra Terror

Otfried Nassauer

Die ersten Fernsehbilder waren nichtssagend, die Korrespondenten vor Ort von ihren Redaktionen und deren Fragen völlig überfordert. Sie konnten beim besten Willen keine informativen Antworten geben. Zu weit waren sie vom Geschehen entfernt. Die militärischen Angriffe auf die Taliban und Ossama bin Ladens Al Qaida in Afghanistan sind kein gewöhnlicher Krieg - auch nicht im Blick auf die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Geheimhaltung wird groß geschrieben. Wenige, dürre Fakten werden bekanntgegeben. Das Gesamtbild, die Strategie und die nächsten Schritte sollen im Dunkeln bleiben.

Mit 40 Flugzeugen und etwa 50 Marschflugkörpern wurden nach westlichen Angaben in der Nacht zum Montag etwa 30 als ausschließlich militärisch bezeichnete Ziele in Afghanistan angegriffen. Beteiligt waren amerikanische strategische Bomber vom Typ B-2 und B-52, trägergestützte taktische Kampfflugzeuge der Typen F-14 und F-18, sowie Schiffe und U-Boote. Großbritannien beteiligte sich als einziges Land direkt an den Angriffen. Tomahawk-Marschflugkörpern können auch von britischen U-Booten abgeschossen werden.

Ebenso mager die Informationen über die angegriffenen Ziele. Die Flugplätze bei Kabul, Kandahar, Dschalalabat, Masar i Sharif, und Kundus, ein Öllager bei Herat, Luftabwehr- und Radarstellungen, der Rundfunksender und der Präsidentenpalast in Kabul, einige Ausbildungslager der Al Qaida und einige Militärstützpunkte der Taliban werden erwähnt. Drei Ziele bei Kabul, vier in der Nähe von anderen Städten, sowie 23 weitere seien bombardiert worden, berichtete Geoff Hoon, der britische Verteidigungsminister.

Das Ziel dieser ersten Angriffe wird erkennbar. Die Vereinigten Staaten wollen Lufthoheit herstellen. Dazu muß die schwache Luftwaffe der Taliban - sie verfügt lediglich über einige altersschwache Mig- und Suchoi-Flugzeuge - am Boden zerstört oder gehalten werden. Die Flugplätze müssen unbrauchbar gemacht, die Luftabwehr und deren Radare ausgeschaltet werden. ausgeschaltet. Auf allen Flugplätze, so afghanische Quellen, brennt es. Lufthoheit ist eine wichtige Voraussetzung für künftige, größere Angriffs- und Aufklärungsoperationen der US-Luftwaffe. Diese werden für die kommenden Nächte erwartet.

Dann werden vermehrt auch andere Ziele ins Visier genommen: Wichtige Nachschub- und Versorgungswege zwischen Kabul und den größeren Städten in den afghanischen Provinzen, politische und militärische Kommandozentralen, militärisch wichtige Stützpunkte zwischen Kabul und den Frontlinien zur oppositionellen Nordallianz, die Großwaffensysteme der Taliban, Nachschub- Munitions- und Betriebsstofflager sowie weitere Ausbildungslager der Al Qaida. Den Taliban soll die Möglichkeit genommen werden, größere zusammenhängende militärische Operationen durchzuführen. Zugleich soll der bewaffneten Opposition das Kämpfen erleichtert werden. Viele dieser künftigen Ziele zu treffen, wird schwieriger, erfordert es, größere Risiken für die eigenen Flugzeuge einzugehen. Deshalb ist die Lufthoheit so wichtig.

Das Erringen der Kontrolle über den afghanischen Luftraum hat aber auch einen anderen Zweck. Es erleichtert die Aufklärung aus der Luft - mit Flugzeugen und unbemannten Drohnen. Zusammen mit den am Boden seit Wochen operierenden Spezialkräften aus den USA und Großbritannien sollen sie detaillierte Daten für Angriffe auf weitere Ziele liefern, helfen, das militärische Kräfteverhältnis zugunsten der Nordallianz und anderer oppositioneller Kräfte zu verschieben. Und sie sollen natürlich dazu beitragen, Ossama bin Laden und wichtige Strukturen der Al Qaida aufzuspüren, damit gegen diese losgeschlagen werden kann.

Eine Entscheidung, ob und wann neben Spezialkräften auch andere Bodentruppen zum Einsatz kommen, ist bislang nicht gefallen. Ein solcher Einsatz wird aber auch nicht ausgeschlossen. Die wahrscheinlichste Variante geht von der Überlegung aus, daß für eine spätere Phase auch Kampf- und Transporthubschrauber benötigt werden. Deshalb sei es sinnvoll, ein oder zwei in Afghanistan gelegene Flugplätze für eine begrenzte Dauer zu erobern und als einsatznahe Basen zu nutzen. Dazu paßt die Nachricht, daß bei manchen Flugplätze, die Landebahnen bislang nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Washington stellt seine militärischen Schläge als begrenzte Angriffe auf die Taliban und die Strukturen der Al Qaida dar, die weder gegen Afghanistan noch gegen den Islam gerichtet seien. Demonstrativ warfen zwei in Ramstein gestartete Transportmaschinen vom Typ C-17 noch während der ersten Angriffsnacht 37.000 Lebensmittelrationen über dem hungernden Afghanistan ab. Ob diese Strategie aufgeht, wird sich in den kommenden Tagen und Wochen zeigen. Bin Laden und die Taliban haben offensichtlich die Absicht, mit einer Doppelstrategie zu antworten. Die Taliban haben angekündigt, Usbekistan anzugreifen und werden versuchen, wichtige Stellungen in Afghanistan zu halten. Ossama bin Laden dagegen hat ähnlich wie George W. Bush einen langen "heiligen Krieg" des Islam gegen die USA ausgerufen. Bin Laden hofft, daß die Proteste in der islamischen Welt umso größer werden, je länger die US-Schläge gegen Afghanistan andauern und je mehr zivile Opfer zu beklagen sind.

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).