19. September 2001

Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder vor dem Deutschen Bundestag zu den Anschlägen in den USA

 

Sehr geehrter Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

I.

Ich habe in meiner Regierungserklärung vom 12. September gesagt: Dies ist nicht nur ein Krieg gegen die USA, dies ist ein Krieg gegen die zivilisierte Welt. Daran halte ich fest.

Ist das, so ist gefragt worden, jener "Kampf der Kulturen" von dem so oft gesprochen worden ist?

Meine Antwort ist eindeutig. Sie heißt nein.

Es geht nicht um den "Kampf der Kulturen", sondern es geht um den Kampf um die Kultur in dieser einen Welt. Dabei wissen wir um die Verschieden­heiten der Kulturen. Und wir respektieren sie. Aber wir bestehen darauf, dass die Verheißungen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung universell gelten.

Dort heißt es:

"Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: Dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen, unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören..."

Diese Verheißungen, auch wenn sie Erbe des christlichen Abendlandes sind, das sich auch nicht ohne verhängnisvolle Irrungen zu diesen Werten entwickelt hat, stehen nicht im Widerspruch zu einer Interpretation des Islam ohne fundamentalistischen Wahnsinn. Jener gesichtslose, barbarische Terrorismus ist gegen all das gerichtet, was unsere eine Welt im Innersten zusammenhält: die Achtung vor dem menschlichen Leben und der Menschenwürde, die Werte von Freiheit, Toleranz, Demokratie und friedlichem Interessenausgleich.

Deutschland steht angesichts dieses beispiellosen Angriffs uneingeschränkt an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika. Unser Bekenntnis zur politischen und moralischen Solidarität mit den USA ist in diesen Tagen mehr als eine bloße Selbstverständlichkeit. Gerade hier in Berlin werden wir Deutschen niemals vergessen, was die Vereinigten Staaten für uns getan haben. Es waren die Amerikaner, die ganz entscheidend zum Sieg über den National­sozialismus beigetragen haben. Und es waren unsere amerikanischen Freunde, die uns nach dem Zweiten Weltkrieg einen Neuanfang in Freiheit und Demokratie ermöglicht haben. Sie haben nicht nur die Lebensfähigkeit, sondern auch die Freiheit West-Berlins garantiert und geschützt. Und sie haben uns geholfen, unsere staatliche Einheit in einem friedlichen, demokratischen Europa wiederherzustellen.

Aber klar muss sein: Dankbarkeit ist eine wichtige und gewichtige Kategorie. Nur: Sie würde zur Legitimation existentieller Entscheidungen nicht reichen. Bei diesen Entscheidungen lassen wir uns einzig von einem Ziel leiten, die Zukunfts­fähigkeit unseres Landes inmitten einer freien Welt zu sichern.

Und genau darum geht es. Die Welt hat auf die barbarischen Anschläge reagiert. Selten einmütig und selten eindeutig.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat in seiner grundlegenden Resolution 1368 einmütig festgestellt, dass die terroristischen Anschläge von New York und Washington eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellen. Mit dieser Resolution sind die völker­rechtlichen Voraussetzungen für ein entschiedenes Vorgehen gegen den Terrorismus geschaffen. Der NATO-Rat hat den Vereinigten Staaten seine volle Solidarität auf der Grund­lage von Artikel 5 des NATO-Vertrages erklärt. Dieser Angriff auf die USA ist ein Angriff auf alle NATO-Partner. Der NATO-Rat hat diesen Beschluss mit unserer vollen Unterstützung gefasst. Das entspricht dem Geist und den Buchstaben des NATO-Vertrages. Die NATO hat bisher keine konkrete Aktion beschlossen. Voraussetzung für einen Beschluss über konkrete Aktionen ist die Feststellung, dass es sich bei den Anschlägen von New York und Washington um einen Angriff von außen handelt. Außerdem muss eine konkrete Bitte um Unterstützung durch die Vereinigten Staaten ausgesprochen werden. Das ist bisher nicht der Fall.

Welche Rechte resultieren aus diesen Beschlüssen für die USA?

Die Vereinigten Staaten können auf der Grundlage der Entscheidung des Sicherheitsrates Maßnahmen gegen die Urheber und Hintermänner, gegen Auftraggeber und Drahtzieher der Attentate ergreifen. Und sie können und dürfen, durch diese Weiterentwicklung des Völkerrechts gedeckt, ebenso entschieden gegen Staaten vorgehen, die den Verbrechern Hilfe oder Unterschlupf gewähren.

Was heißt das für die Pflichten der Bündnispartner?

Alle Bündnispartner haben ihre moralische und politische Solidarität ausgesprochen. Das ist selbst­verständlich. Wir wissen heute noch nicht, ob und welche Unter­stützung die Vereinigten Staaten von den NATO-Partnern erwarten und einfordern. Das könnte auch militärischer Beistand sein. Ausgeschlossen werden kann und darf er nicht. Um welche Form der Unterstützung wir auch immer gebeten werden, das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungs­gerichts werden dabei selbstverständlich beachtet.

II.

Natürlich: Jedes Recht korrespondiert mit Pflicht. Aber umgekehrt gilt: Auch einer Bündnispflicht korrespondiert ein Recht. Und das heißt: Information und Konsultation. Was wollen wir als Deutsche und Europäer erreichen: Uneingeschränkte Solidarität mit den USA bei allen notwendigen Maßnahmen. Zu Risiken, auch im Militärischen ist Deutschland bereit, zu Abenteuern nicht. Diese werden von uns dank der besonnenen Haltung der amerikanischen Regie­rung auch nicht verlangt und sicher auch nicht verlangt werden. Diese Form der Solidarität ist die Lehre, die wir aus unserer Geschichte gezogen haben. Eine Lehre, die für die zivilisierte Welt bitter genug war. Eine Fixierung auf ausschließ­lich militärische Maßnahmen wäre fatal.

Wir Europäer müssen unsere Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus weiter verstärken. Gerade jetzt muss Europa mit einer Stimme sprechen. Auf meinen Vorschlag hat darum der belgische EU-Ratsvorsitzende, Verhofstadt, für diesen Freitag eine Sondersitzung des Europäischen Rates einberufen, auf der wir die weitere Haltung der Europäischen Union zur Bekämpfung des Terrorismus beraten werden. Unser Ziel muss sein, möglichst alle Länder in ein weltweites System von Sicher­heit und Wohlstand zu integrieren. Dazu wollen wir im Rahmen der Entwicklungs­zusammenarbeit Anreize für Staaten bieten, die sich zur Kooperation bei der Be­kämpfung des Terrorismus bereit erklären. Wir müssen und wir wollen ein umfassendes Konzept zur Prävention und Bewäl­tigung von Krisen entwickeln. Dieses Konzept muss auf politische, wirtschaftliche, kulturelle und Sicherheits-Zusammenarbeit gegründet sein.

Für die Krisenregionen des Nahen Ostens und Zentralasiens müssen wir mit einem solchen Konzept die Grundlagen für politische und wirtschaftliche Stabili­sierung und Stabilität schaffen. Vor allem müssen wir jetzt mit vereinten Anstren­gungen alles daran setzen, den Durchbruch zum Frieden im Nahen Osten zu er­reichen. Der Bundesaußenminister hat bereits mehrfach die Initiative ergriffen, die Konfliktparteien in Israel und Palästina zum Ende der Gewalt und zur Wiederaufnahme Ihrer Gespräche zu bewegen. Sein beherztes Engagement in diesem Konflikt ist der beste Beweis für unsere Bereitschaft, den Konfliktparteien auf ihrem Weg zum Frieden beizu­stehen. Gestern haben die internationalen Vermittlungsbemühungen zu einem ersten Erfolg geführt. Palästinenserpräsident Arafat hat seinen Truppen die strikte Feuereinstellung befohlen. Daraufhin hat Israels Ministerpräsident Sharon den Rückzug der israelischen Truppen aus den Palästinensergebieten angeordnet.

Diese Entwicklung ist ein ermutigender Schritt in einer schwierigen Situation. Sie wird die internationalen Bemühungen, eine Allianz gegen den Terrorismus zu schmieden, erleichtern. In diesem Sinne müssen wir den Dialog mit den gemäßigten Führern der arabischen Welt fortsetzen. Bereits in den vergangenen Tagen habe ich deshalb Kontakt gehalten mit dem jordanischen König Abdallah und dem ägyptischen Präsidenten Mubarak. Und diesem Zweck wird auch ein erneutes Gespräch mit dem ägyptischen Präsidenten am kommenden Dienstag in Berlin dienen. Die Bundesregierung wird darüber hinaus auch die bestehenden Kontakte zu wichtigen Regionalmächten wie Syrien und Iran nutzen, um sie zu einer Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus zu bewegen. Man kann es nicht oft genug betonen: Wir befinden uns nicht im Krieg gegen einen Staat. Und wir befinden uns auch nicht im Krieg gegen die islamische Welt insgesamt.

Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt, und sie werden dafür zur Rechen­schaft gezogen werden. Die Anschläge von New York und Washington haben nichts mit Religion zu tun. Sie sind Ausdruck einer verbrecherischen Gesinnung. Die erschreckende Miss­achtung menschlichen Lebens ist eine Kampf­ansage an jede Zivilisation. Die Aufgabe, Terroristen und Fanatiker zu ächten und mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen, stellt sich daher auch den islamischen Staaten und Glaubens­gemeinschaften. Sie dürfen nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen lassen, dass es keine politische oder religiöse Rechtfertigung für terroristische Gewalt geben kann.

III.

Viele Menschen in unserem Land fragen nach den möglichen Auswirkungen der terroristischen Verbrechen. Die Bundes­regierung weiß um diese Sorgen. Und wir nehmen sie sehr ernst. Aber wir sagen auch: Es gibt nach derzeitiger Einschätzung keinen Anlass zu Furcht oder gar zur Panik. Die Bundesregierung und die Sicherheitsbehörden haben entschlossen reagiert und sind weiterhin wachsam. Wir befinden uns nicht in einem nationalen Notstand. Unmittelbare Konsequenzen, die wir aus den tragischen Ereignissen ziehen müssen, wurden und werden gezogen.

So wird die Sicherheit des Flugverkehrs, am Boden wie in der Luft, optimiert.

Wir haben die entsprechenden Vorkehrungen getroffen und umgesetzt und die dafür notwendige Zustimmung der privaten Luftverkehrsträger auch erhalten. Das betrifft die Sicherung des Cockpits wie auch die Verbesserung der Gepäck­kontrollen, die Überprüfung der Beschäftigten auf Flughäfen oder die Begleitung deutscher Flugzeuge durch Sicherheitspersonal.

Unsere Nachrichtendienste haben bei der Bekämpfung des weltweiten Terroris­mus bislang gute Arbeit geleistet. Sie haben in enger Kooperation mit den amerikanischen und europäischen Diensten Anschläge verhindert und Strukturen des Terrorismus aufklären können. Sie haben in der Vergangenheit durch ihre Ermitt­lungen die Festnahme des damaligen Finanzchefs aus dem Umfeld von Usama bin Laden ermöglicht.

Wir werden auch weiterhin unsere besondere Aufmerksamkeit auf die finanziellen Strukturen der terroristischen Netzwerke richten müssen. Es ist unsere Aufgabe, diese Finanz­ströme zu erfassen und zu unterbinden. Die Finanzierung des Terrors darf nicht zur Kehrseite des freien Welthandels und des freien Kapitalflusses werden. Desgleichen werden wir auch genauer auf Finanzie­rungen des Terrors achten müssen, die sich unter dem Mantel der Wohltätigkeit tarnen.

Meine Damen und Herren,

bereits heute Nachmittag werden wir im Bundeskabinett ein Maßnahmenpaket beschließen, um die Bekämpfung des Terrorismus im Licht neuer Erkenntnisse zu optimieren.

Dazu gehört auch eine Neuregelung im Strafrecht, die es uns ermöglicht, aus dem Ausland operierende Unterstützer krimineller Vereinigungen künftig genauso zu belangen wie Mitglieder und Unterstützer inländischer Vereinigungen. Dazu ge­hört weiter die Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht. Denn die grundgesetzlich garantierte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit darf nicht jene schützen, die Religion missbrauchen, um Mord und Terror zu planen.

Wir werden Qualität und Effizienz in der Bekämpfung des Terrorismus verbessern. Aber wir werden unter keinen Umständen den Rechtsstaat einschränken oder gar abschaffen, um den Terror zu bekämpfen. Unser Kampf gegen den Terrorismus ist eine Verteidigung unserer offenen Gesellschaft, unserer Liberalität, unserer Art zu leben. Der Terrorismus wird es nicht so weit bringen, dass wir die Werte, die wir gegen den Terrorismus verteidigen, selber in Frage stellen. Und der Terrorismus darf und wird uns auch nicht daran hindern, ein modernes, auf die Anforderungen unserer Volks­wirtschaft abgestimmtes Zuwanderungsrecht zu beschließen. Mit dem Gesetzentwurf des Bundes­innenministers haben wir ein zeitgemäßes Zuwanderungsrecht auf den Weg gebracht. Das Gesetz wird in Deutschland dringend gebraucht. Sinnvolle deutsche Ausländer-, Zuwanderungs- und Integrationspolitik braucht mehr denn je ein abgewogenes rechtliches Instrumentarium. Denn von allein wird sich Zuwanderung nicht steuern und regeln. Natürlich sind wir offen für redaktionelle Überarbeitungen in dem einen oder anderen Punkt. Notwendige Ergänzungen und Anpassungen können auch im weiteren parlamentarischen Verfahren noch berücksichtigt werden. Gerade in der aktuellen Situation werden die Stärken und Vorzüge des Entwurfs mehr als deutlich: Dieses Gesetz bringt mehr Sicherheit, beispielsweise durch die Personenüberprüfungen im Visaverfahren schon vor der Einreise bei den Deutschen Aus­landsvertretungen. Auch erlaubt die Neuregelung genauere Unterscheidungen zwischen den Menschen, die ein Aufent­halts­recht erlangen können und den Menschen, für die dies nicht gilt. Alle erhalten schneller Gewissheit über ihre weitere Situation und die daraus folgenden Konsequenzen. Dadurch werden sich deutlich weniger Per­sonen hier aufhalten, denen die sichere Perspektive für einen Aufenthalt bei uns fehlt.

Die Fragen nach Zuwanderung, Flüchtlingsschutz und Integration stellen sich nicht allein in Deutschland. Unsere europäischen Partner diskutieren diese Fra­gen gleichermaßen. Im europäischen Vergleich nehmen wir, was die Zahlen angeht, schon länger keinen Spitzenplatz mehr ein. Trotzdem haben wir als Land in der Mitte Europas ein erhebliches Interesse daran, auch auf europäischer Ebene zukunfts­fähige Regelungen bei der Zuwanderung zu beschließen. Mit unserer eigenen Dis­kussion können wir dazu beitragen.

IV.

Wie so viele andere Nationen ist auch Deutschland ganz direkt von den terroristischen Attentaten in den USA betroffen. Wir trauern um viele Deutsche, die in den entführten Flugzeugen oder im World Trade Center einen schrecklichen Tod fanden. Ihre genaue Zahl wissen wir noch immer nicht.

V.

Kein Zweifel: Viele unserer Landsleute ängstigen sich. Sie haben Angst vor Terror. Angst vor Krieg. Diese Angst mag übertrieben, ja unbegründet sein. Gleichwohl sie ist da und bewegt die Menschen in unserem Land. Die ganz Jungen zumal und besonders auch jene, die Krieg erlebt und erlitten haben. Ich glaube, diese Angst zu verstehen. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass Angst uns lähmt. Gerade meine Arbeit besteht darin, dabei zu helfen, aus Angst Zuver­sicht zu entwickeln. Und ich bin überzeugt davon, dass es dazu Anlass gibt.

Zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts steht Deutschland auf der richtigen Seite. Auf der Seite der unveräußerlichen Rechte aller Menschen. Diese Menschen­rechte sind die große Errungenschaft und das Erbe der europäischen Aufklärung. Diese Werte der Menschenwürde, der freiheitlichen Demokratie und der Toleranz sind unsere große Stärke im Kampf gegen den Terrorismus. Sie sind das, was unsere Völker- und Staaten­gemeinschaft zusammenhält - und was die Terroristen zerstören wollten.

Diese Werte sind unsere Identität. Wir werden sie verteidigen. Mit Nachdruck und Entschlossenheit.

Ich danke Ihnen.

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