Aufrüsten ins strategische Nichts
Der Bundeswehreinsatz im Inneren ist ebenso nutzlos wie gefährlich.
Martin Kutz / Magnus-Sebastian Kutz
Anfang Oktober 2008 hatte der Koalitionsausschuss der großen
Koalition eine Änderung des Grundgesetzes vorgeschlagen, die dem
Einsatz der Bundeswehr im Inneren eine neue Qualität geben soll.
Im Vordergrund standen dabei die Erlaubnis zum Einsatz von Kriegswaffen
und die Zuweisung des Oberbefehls an den Verteidigungsminister. Diese
gefährliche Melange ist nicht nur ein Angriff auf unsere über
Jahrhunderte mit vielen Rückschlägen erkämpfte Rechtsordnung,
sondern auch nutzlos und kontraproduktiv im Kampf gegen den Terrorismus.
Die im letzten Herbst vorgeschlagenen Änderungen fanden sich in
zwei kurzen Absätzen des Gesetzestextes. Sollte die Bundesregierung
der Meinung sein, dass ein besonders schwerer Unglücksfall droht,
zu dessen Abwehr die Polizei nicht in der Lage ist, kann sie den Einsatz
der Bundeswehr mit militärischen Mitteln anordnen – und zwar über
die Köpfe der Länder hinweg, denen gegenüber sie dann weisungsbefugt
ist. Ist der Bundesverteidigungsminister der Meinung, das dies besonders
dringend ist, liegt die Entscheidungsgewalt bei ihm. Glücklicherweise
war die Einigung im Koalitionsausschuss nicht von Dauer.
Gerechtfertigt wurde die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung
mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2006,
das Luftsicherheitsgesetz und den Abschuss von Passagierflugzeugen für
verfassungswidrig zu erklären. Es begründete dies mit dem eklatanten
Verstoß gegen Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen
ist unantastbar. Dieses grundlegende Verbot, Leben gegen Leben aufzuwiegen,
würde aufgekündigt.
Militär gegen Terrorismus?
Das Militär ist in seiner heutigen Form eine Fortentwicklung des
17. und 18. Jahrhunderts, die in Folge des 30-Jährigen Krieges stattgefunden
hat. Vorher sahen Kriege aus, wie die heutigen Konflikte, die Herfried
Münkler als „neue Kriege“ bezeichnet hat: von Bürgerkriegsökonomien
geprägt, unstrukturiert und mit den einfachen Waffen, die den Akteuren
zur Verfügung stehen. In ihrer Gewalt entgrenzt, ganz ähnlich
den Strukturen, die sich heute in vielen Konflikten der dritten Welt finden.
Die Entwicklung des Militärs hatte deshalb vor allem die Einhegung
und Kontrolle von Gewalt zum Ziel: klare Strukturen und Hierarchien, klare
Regeln und ein Berufsethos, ein staatliches Gewaltmonopol und der rechtskonforme
Einsatz von Gewalt, wie es zum Beispiel mit dem Versuch geschieht, in
Kriegen die Zivilbevölkerung zu schonen. Das Militär ist auf
den Kampf in Formationen und die Möglichkeit angewiesen, den Gegner
zu erkennen. Und vor allem kann es nur in Situationen effizient agieren,
in denen es die Zerstörungskraft seiner Waffen einsetzen kann.
Terroristen können die technisch-militärisch weit überlegenen
Gesellschaften dagegen nur angreifen, wenn sie Kriegsrecht und Kriegsvölkerrecht
missachten. Sie agieren im Geheimen, greifen gezielt unbeteiligte Zivilbevölkerung
an und sind zum Selbstopfer bereit. Ihr politisches Ziel ist nicht die
Ermordung der Menschen selbst, sondern mit Hilfe dieser Morde die Medien
zur Berichterstattung zu zwingen und bei Politik sowie Bevölkerung
Angst und Panikreaktionen auszulösen.
Die Hilflosigkeit des Militärs gegenüber diesen Strukturen
lässt sich an dem Dilemma der letzten Jahre im Irak und Afghanistan
erkennen. Die Struktur der dortigen Kämpfe, die teils Partisanenkriege,
teils massiver Terrorismus sind, lässt den in die Kämpfe verwickelten
Armeen nur die Wahl zwischen der Entgrenzung der Gewalt mit dem Einsatz
ihrer militärischen Mittel zum Preis immer größerer ziviler
Opfer auf der einen Seite oder dem Tod von immer mehr Soldaten. Schon
zigtausende der dort eingesetzten Soldaten sind mit schwersten Traumatisierungen
aus den Kriegsgebieten zurückgekehrt, nachdem sie unter dieser ständigen
Drohung standen, Unbeteiligte zu töten oder hilflos dem Tod ihrer
Kameraden zuzusehen.
Ernstgemeinte Illusionen oder Partisanenkrieg im Inland?
Militäreinsatz im Inneren wurde schon im 19. Jahrhundert Bürgerkriegseinsatz:
In der Angst reaktionärer Staaten vor der liberalen und demokratischen
Bewegung wurde das Militär zu einem Instrument zur Verhinderung gesellschaftlicher
und politischer Modernisierung. Seien es Hungerrevolten, die Revolution
1830 in Polen oder die deutsche Revolution 1848, das Militär wurde
zur Niederschlagung aufrührerischer Elemente eingesetzt, um traditionelle
Herrschaftsinteressen in den gesellschaftlichen Konflikten während
der Industrialisierung durchzusetzen. Auch im latenten und offenen Bürgerkrieg
der Weimarer Republik wurde Militär aktiv. Paramilitärische
Formationen der NS-Zeit, ja selbst Teile der Wehrmacht in der Endphase
des Zweiten Weltkrieges, haben gegen das eigene deutsche Volk militärische
Gewalt eingesetzt.
Die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols bei gleichzeitiger Trennung
der militärischen Gewalt für die äußere Sicherheit
und der massiv reglementierten Polizeigewalt in der inneren Sicherheit
ist ein unverzichtbares Kulturgut und zugleich eine unter unglaublichen
Mühen erreichte Errungenschaft der deutschen Geschichte. Doch warum
soll diese Errungenschaft wieder aufgegeben werden?
Über die Motivation von Wolfgang Schäuble und Franz Josef
Jung lässt sich nur spekulieren. Ob sie tatsächlich der Illusion
anhängen, mit dieser Verfassungsänderung Terroranschläge
in Deutschland verhindern zu können, bleibt zweifelhaft. Der Abschuss
von zivilen Flugzeugen bliebe auch so verboten. Ob so ein Abschuss in
dem kurzen Zeitfenster, das im Ernstfall bliebe, auch zu realisieren wäre,
ist höchst zweifelhaft. Die Gefahr hingegen, das vermeintliche Legalisierung,
Zeitdruck und ungenauer Wissensstand zu einem fehlerhaften Abschuss führen
würden, ist dagegen groß.
Die Bundeswehr ist für den Antiterroreinsatz im Inland weder ausgerüstet
noch ausgebildet und militärische Mittel sind im Inlandseinsatz fehl
am Platze: sollen Soldaten vermeintliche Rucksackbomber mit Gewehr oder
Maschinenpistole erschießen? Sind schwere Maschinengewehre, Raketen,
Bomben, Kampfpanzer und Kanonen Mittel zur Terrorismusbekämpfung?
Ihnen allen ist gemein, das der Tod von Unbeteiligten bei ihrem Einsatz
nicht zu verhindern ist.
Das Polizeirecht schreibt der Polizei genau vor, welche Mittel sie einsetzen
darf und wann es ihr möglich ist, als letztes Mittel von der Schusswaffe
Gebrauch zu machen. Vergleichbare Bestimmungen gibt es für die Bundeswehr
im Inland nicht. Und wenn es sie irgendwann geben sollte, müssten
Soldaten über die derzeitigen Standards hinaus auch noch als Polizisten
ausgebildet werden.
Die Argumentation der Gesetzesvorlage war unlogisch. Da Einzeltäter
oder kleine Gruppen – nur so agieren Terroristen – mit militärischen
Mitteln nicht bekämpft werden können, liegt es nahe, dass Innen-
und Verteidigungsminister andere Szenarien vor Augen haben. Die seit 2001
geschürte Islamistenfurcht kann sich in Deutschland nur auf den türkischstämmigen
Teil der Bevölkerung beziehen. Sollte diese Islamistenfurcht die
Millionen Türken in Deutschland als zukünftige Bürgerkriegspartei
ausgemacht haben? Dann hätten Schäubles und Jungs Argumente
einen nachvollziehbaren Sinn. Ob beide sich dieser Logik bewusst sind,
sich ihr schon verschrieben haben?
Die praktisch entscheidende Frage ist dann, unter welchen Bedingungen
ein Bundesverteidigungsminister oder die Bundesregierung einen solchen
„Unglücksfall“ annehmen. Schon beim Einsatz von Tornados zur Überwachung
von Demonstranten im Juni 2007 während des G8 Gipfels in Heiligendamm
handelte es sich nicht um einen „besonders schweren Unglücksfall“.
Auch die Definition von politisch motivierter Gewalt als Terrorismus spielt
vor diesem Hintergrund eine wichtige Rolle. Im November 2007 entschied
der BGH, dass die „militante Gruppe“, die jahrelang in Berlin Brandanschläge
verübt hatte, als kriminelle Vereinigung und nicht nach §129a
StGB als terroristische Vereinigung einzustufen sei. Im August 2008 wurde
ein Klima- und Umweltcamp in Hamburg, aus dessen Umfeld Straftaten verübt
wurden, mit Terrorismus gleichgesetzt. Diese Vermischung von gewalttätigen
politischen Protesten mit dem Diskurs um islamistischen Terrorismus und
die Mobilisierung der Erinnerung an den Terror der RAF verdeutlicht sowohl
die Gefahr als auch die Stoßrichtung von Schäubles Forderungen
– und es stellt sich die Frage, welchen Anschlag der RAF die Bundeswehr
denn hätte verhindern können.
Der Bundesinnenminister hat mit den Einsätzen von Tornados, Panzern,
Marine und Soldaten beim G8-Gipfel schon den politischen Willen bewiesen,
Soldaten bei politischen Protesten einzusetzen. Nun will er diese auch
der Kontrolle der Polizei entziehen und zusätzlich den Einsatz von
Kriegswaffen ermöglichen. Es ist nicht auszudenken, welche politischen
Konsequenzen der Einsatz dieser Waffen gegen vermeintliche Terroristen
hätte: Zivile Opfer und die Konflikte mit großen Bevölkerungsgruppen
wären die Folge. Kann man Politikern, die schon ohne Rechtsgrundlage
so handeln und nicht erkennen lassen, dass sie in der Sache dazugelernt
haben, überhaupt so weit reichende Vollmachten anvertrauen?
Hinzu kommt der Versuch der Bundesminister, sich aus der Verantwortung
für solche Notstandsmaßnahmen zu stehlen. Burkhart Hirsch formulierte
dies wie folgt: „Der Minister war schon erstaunt, dass das Bundesverfassungsgericht
in seinem Urteil zur Luftsicherheit die Möglichkeit offen ließ,
dass er nach einem Abschuss eines Passagierflugzeugs wegen Totschlags
vor einem Schwurgericht landen könnte. Nun will er zur freien Hand
ermächtigt werden.“ Die Entscheidungen, die Helmut Schmidt bei der
Sturmflut in Hamburg 1962 und während der Entführung der Lufthansamaschine
„Landshut“ 1977 traf, waren ebenso wenig juristisch gedeckt, wie die Entscheidung,
die Verteidigungsminister Georg Leber fast getroffen hätte, als er
beinahe ein verirrtes Verkehrsflugzeug abschießen ließ, das
auf die Abschlussfeier der Olympischen Spiele 1972 zuflog – beide haben
diese Entscheidungen allerdings vielfältig abgesichert und ganz und
gar persönlich verantwortet. Franz-Josef Jung hätte mit der
gewünschten juristischen Rückendeckung vielleicht den Befehl
gegeben, weil das Gesetz ihn freispräche.
Ein solcher Bundeswehreinsatz im Inneren wäre nur zu rechtfertigen,
wenn extreme Dringlichkeit und die Gefährdung von extrem vielen Menschenleben
zu erwarten ist. Und dennoch haben alle Szenarien dieser Art eines gemeinsam:
sie sind völlig unrealistisch in der Annahme, man könnte sicher
vorhersagen, dass das Unglück mit einem Bundeswehreinsatz zu verhindern
sei und Fehlurteile wären in solchen Situationen ausgeschlossen.
Gerade das Beispiel von den Olympischen Spielen 1972 illustriert die mit
solchen Entscheidungen verbundene Gefahr.
Die juristische Institutionalisierung im Grundgesetz würde Tabus
brechen: Soldaten gegen Bürger stellen, das Recht auf Leben und die
Menschenwürde missachten, und mit der Machtfülle des Verteidigungsministers
und dem Primat des Militärischen die Selbsterhaltungskräfte
der Demokratie massiv schwächen.
Terrorismus kann man nur durch kriminalistische Aufklärungsarbeit,
durch polizeiliche und geheimdienstliche Ermittlungen frühzeitig
zu erkennen suchen und im Vorfeld aufhalten, aber nicht indem man mit
Kanonen auf Einzelpersonen schießt. Dass Flugzeuge zu Waffen werden,
verhindert man nicht mit Kampfjets, sondern mit guten Sicherheitskontrollen
und Sicherheitsmaßnahmen im Cockpit.
Seit dem 11. September 2001 befinden sich viele politische Errungenschaften,
die seit der Aufklärung unter schwierigsten Bedingungen und in harten
Kämpfen durchgesetzt wurden, unter einem permanenten Dauerfeuer sicherheitspolitischer
Hardliner. Seien es überzogene Überwachungsmaßnahmen,
die Angriffe auf das Folterverbot, Versuche, Leben gegen Leben juristisch
aufzuwiegen oder nun sogar der Einsatz von Militär gegen die eigene
Bevölkerung, wobei die Soldaten selber nicht das geringste Interesse
an einer solchen Aufgabe haben.
Die Bundeswehr kann bereits für jeden nichtmilitärischen Zweck,
für den sie ausgebildet und ausgerüstet ist, im Inland sinnvoll
eingesetzt werden. Allem anderen haben Aufklärung, Geschichte, Verfassung
und Polizeirecht aus gutem Grund Grenzen gesetzt.
Dr. Martin Kutz
ist Sozialhistoriker und war bis 2004 Wissenschaftlicher Direktor an der
Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Von 1998 bis zu ihrer
Abschaffung durch die Koalition aus Schill-Partei und CDU im Jahr 2001
war er Mitglied der Hamburger Polizeikommission. Von ihm ist zuletzt das
Buch „Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte“
erschienen.
Magnus-Sebastian Kutz
ist Politologe und promoviert an der Arbeitsstelle Medien und Politik
der Universität Hamburg. Er ist Lehrbeauftragter am Institut für
Politikwissenschaft.
Buchtipp:
Deutsche Soldaten.
Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte
Martin Kutz’ 2006 erschienene Darstellung ist die erste umfassende Kultur-
und Mentalitätsgeschichte des deutschen Militärs vom Beginn
der Neuzeit bis heute. Er zeigt die Auswirkungen gesellschaftlicher Umbrüche
auf das Militär ebenso, wie auch die Auswirkungen, die Veränderungen
innerhalb des Militärs und Kriegserfahrungen auf die Gesellschaft
hatten. Der Schwerpunkt liegt auf den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts
und auf der Ausrichtung und Veränderungen der Bundeswehr.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 403 Seiten; € 49,90
ISBN-13: 978-3534200139
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