Gastbeitrag
Streitkräfte und Strategien - NDR info
05. Mai 2012


Kriegsdienstverweigerungsrecht für Sanitäter

Höchstrichterliches Urteil mit weitreichenden Folgen für die Bundeswehr?

Gastbeitrag von Jürgen Rose

Erneut hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mit einem spektakulären Urteil die Gewissensfreiheit von Bundeswehrsoldaten gestärkt. 2005 hatte es einem Stabsoffizier das Recht auf Gehorsamsverweigerung zugebilligt, weil die Bundeswehr den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak unterstützt hatte. Der nun vorliegende Beschluss betrifft das Recht von Militärsanitätern, den Dienst an der Waffe zu verweigern. Hierzu haben die Bundesverwaltungsrichter am 22. Februar festgestellt:

Zitat
„Aktive Berufs- und Zeitsoldaten des Sanitätsdienstes der Bundeswehr haben ebenso wie Wehrpflichtige und alle anderen Soldaten der Bundeswehr einen Anspruch darauf, dass das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben ein Anerkennungsverfahren durchführt, wenn sie einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer stellen.“

Das war ein Paukenschlag, denn mit dieser Entscheidung hat das Gericht seine bisherige Rechtsprechung geändert. Einer der beiden klageführenden Sanitätsoffiziere, der Stabsarzt Friedrich Hammerschmidt, unmittelbar danach sichtlich erleichtert in der ARD:

O-Ton Hammerschmidt
„Zum einen bin ich natürlich sehr froh, dass für alle Sanitätsoffiziere eine Weiche gestellt worden ist, die es seit 25 Jahren nicht gegeben hat. Die Veränderungen der Realität in den Einsätzen der Bundeswehr bringen einfach mehr Gefahren mit sich und ermöglichen eben Ärzten ebenfalls, das gleiche Recht in Anspruch nehmen zu können wie alle anderen Kameraden, die Schulter an Schulter neben ihnen stehen und kämpfen.“

Nicht ganz so erfreut über das Leipziger Urteil zeigte sich der Chef und Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, Ingo Patschke. In seinem tags darauf bekanntgegebenen Tagesbefehl sah er den besonderen Charakter des Sanitätsdienstes durch den Richterspruch keineswegs berührt. Wörtlich heißt es dort:

Zitat
„Die Erfüllung unseres Auftrages bei der Versorgung unserer Soldaten im In- und Ausland wird darunter nicht leiden, ebenso wie unser Verständnis eines humanitären und waffenlosen Dienstes.“

Genau letzteres, nämlich die Frage, ob die Soldaten und Soldatinnen der Sanitätstruppe Dienst an der Waffe leisten oder nicht, ist der eigentliche Kern der Auseinandersetzung. Zwar hat sich das Bundesverwaltungsgericht in seiner inzwischen vorliegenden schriftlichen Urteilsbegründung hierzu nur indirekt geäußert. Doch es gibt starke Indizien dafür, dass die Richter den Sanitätsdienst eben nicht mehr als waffenlosen Dienst qualifizieren. Denn zum einen haben sie der Revision der beiden Sanitätsoffiziere genau mit der Begründung stattgegeben, dass hierdurch:

Zitat
„Gelegenheit zur Klärung der Frage [gegeben werde], ob noch davon ausgegangen werden könne, dass der Sanitätsdienst in der Bundeswehr ein waffenloser Dienst sei.“

Zum anderen hat das Personalamt der Bundeswehr in den vorangegangenen Verwaltungsgerichtsverfahren selbst eingeräumt, dass sich im Bereich der sogenannten Combat-Medic-Ausbildung – also der Kampfausbildung der Sanitäter – eine Veränderung ergeben habe. Wörtlich:

Zitat
„Hierbei werden Soldaten ausgebildet, um als Teil einer Einheit ‚offensive Aufgaben‘ wahrzunehmen.“

Strenggenommen war die Auffassung vom angeblich „waffenlosen Dienst“ schon immer realitätsfern. So sieht es jedenfalls der ehemalige Inspekteur des Sanitätsdienstes, Karl Demmer:

O-Ton Demmer
„Ich will hier niemandem irgendwelche Vorwürfe machen, aber es ist schon immer ein bisschen heikel gewesen, von dem waffenlosen Dienst zu reden. Letzten Endes kann man keinem normalen Menschen klar machen, dass jemand, der mit einer Pistole bewaffnet ist, einen waffenlosen Dienst macht. Denn die Pistole hat er ja, um sie gegebenenfalls auch einsetzen zu können.“

Noch viel deutlicher wird eine Studie des Verteidigungsministeriums. Ausgearbeitet wurde sie in dem für die Organisation des Sanitätsdienstes zuständigen Grundsatzreferat Fü San II 2. Der etwas sperrige Titel des Papiers: „Rotes Kreuz im Fadenkreuz? Gedanken zu Schutzzeichen und Rolle von Sanitätern in asymmetrischen Konflikten aus militärisch-taktischer, juristischer und ethischer Perspektive“. Verfasser sind der Oberfeldarzt Rolf von Uslar sowie der Jurist und Reserveoffizier Florian van Schewick. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die veränderte Einsatzrealität der sogenannten asymmetrischen Konflikte im 21. Jahrhundert. Haben im klassischen Krieg die Staaten das Humanitäre Völkerrecht zumeist beachtet, so gilt dies für die innerstaatlichen Bürger- und Guerillakriegsszenarien der Gegenwart immer weniger. Die dort agierenden Widerstandskämpfer, Guerilleros, Terroristen und Aufständischen kennen entweder die Regeln des Krieges gar nicht oder ignorieren sie vorsätzlich. In besonderer Weise ist davon das Sanitätspersonal der Streitkräfte betroffen. Denn Sanitäter werden vom sogenannten Kriegsvölkerrecht in ganz besonderer Weise, nämlich „unter allen Umständen, geschont und geschützt“, wie es im Genfer Abkommen von 1949 wörtlich heißt. Dagegen wirkt in der Einsatzwirklichkeit von heute das Schutzzeichen des Roten Kreuzes inzwischen als eine Art „Kugelmagnet“, d.h., auf Patrouillenfahrten werden Sanitätsfahrzeuge und Sanitätspersonal von den Kämpfern der Gegenseite ganz gezielt unter Feuer genommen. Als Konsequenz ist nicht nur die Bundeswehr daher dazu übergegangen, bei Einsätzen außerhalb der Feldlazarette auf das Rote Kreuz als Kennzeichen zu verzichten. Der Nachteil dieser – im Übrigen durchaus völkerrechtskonformen – Praxis besteht allerdings darin, dass nunmehr die Sanitäter vom Gegner als Kämpfer wie jeder andere Soldat auf dem Gefechtsfeld wahrgenommen werden. Ebenfalls sind die mittlerweile schwer bewaffneten Sanitätsfahrzeuge nicht mehr von regulären Kampffahrzeugen zu unterscheiden. Beides führt dazu, dass die prinzipielle Gefährdung für Sanitäter im Einsatz deutlich gestiegen ist. Nicht zuletzt deshalb fordern die Autoren der genannten Studie, dass unter taktischen Gesichtspunkten das Sanitätspersonal bei der „Herstellung von Feuerüberlegenheit“ und der „offensiven Bergung von Verwundeten durch Waffeneinsatz“ unbedingt mitwirkt. Wörtlich heißt es hierzu:

Zitat
„Aus taktischer Sicht ist der Einsatz einer maximal verfügbaren Kampfkraft und somit aller Rohre einschließlich derjenigen der Sanitäter alleinig zielführend. Der Verzicht auf den Einsatz der Sanitäter im Feuerkampf und damit der Verzicht auf Feuerkraft reduziert die Erfolgswahrscheinlichkeit und in jedem Fall die Geschwindigkeit der beabsichtigten Bereinigung der Lage und Bergung der Verwundeten, was wiederum deren Überlebenschancen verschlechtert. Zunächst ist also das taktische Problem zu lösen, dann das medizinische; denn letzteres hat sich erübrigt, wenn ersteres nicht erfolgreich gelingt.“

Die Quintessenz ihrer Analyse sehen die beiden Autoren des Papiers in der von den US-Streitkräften formulierten Erkenntnis, die da lautet:

Zitat
„The best medicine on any battlefield is fire superiority.“

Zu Deutsch: Die beste Medizin auf jedem Gefechtsfeld ist Feuerüberlegenheit. In Anbetracht solcher deutlichen Ausführungen in einer Studie des Verteidigungsministeriums kann kaum mehr ein Zweifel daran bestehen, dass die Annahme, der Sanitätsdienst erfülle weiterhin lediglich einen rein humanitären und waffenlosen Auftrag, pure Fiktion darstellt. Das Kriegsdienstverweigerungsrecht auch von Sanitätssoldaten zu stärken, erscheint daher nur als konsequent. Indes könnten sich die Folgen des Leipziger Urteilsspruchs als dramatisch erweisen. Der ehemalige Sanitätsinspekteur Karl Demmer:

O-Ton Demmer
„Sicher wird sich das Urteil auf die Personalsituation auswirken, wenn wir davon ausgehen, dass es dann tatsächlich so in Kraft tritt und angewandt wird, wie es sich jetzt anbahnt. Und hier muss man natürlich überlegen, wie man die Zahl der Abgänge wegen anerkannter Kriegsdienstverweigerung reduzieren kann.“

Denn der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts hat sich bei den Sanitätsoffizieren schnell herumgesprochen. Auch an der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München. In dem dort aktuell laufenden Lehrgang „Post-Universitäre Militärische Ausbildung“, kurz PUMA, haben von 65 Teilnehmern 16 einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt.

Wie geht die Bundeswehr nun mit dieser neuen Situation um? Interview-Anfragen von NDR Info hat das Verteidigungsministerium abgelehnt. Die Begründung: Man wolle erst einmal abwarten. Und: Für die Bundeswehr sei der Sanitätsdienst weiterhin ein waffenloser Dienst.


 

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.