Was tun mit festgenommenen Personen am Hindukusch?
Wie Bundeswehr-Soldaten von ihrem Dienstherrn allein gelassen wurden
Gastbeitrag von Andreas Dawidzinski
Im vergangenen Monat wurde der ehemalige Chef des Kommandos Spezialkräfte KSK Reinhard
Günzel als Zeuge von dem zum Untersuchungsausschuss umgewandelten Verteidigungsausschuss
gehört. Der Brigadegeneral a.D. sollte im Zusammenhang mit dem Fall Kurnaz Auskunft geben
über die Rolle der deutschen Spezialkräfte in Afghanistan. Günzel war vor knapp vier
Jahren vom damaligen Verteidigungsminister Struck gefeuert worden, weil er sich bei dem
hessischen Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann für eine Rede bedankte, die in der
Öffentlichkeit als antisemitisch kritisiert worden war. Struck sprach damals von einem
verwirrten General. Vor dem Untersuchungsausschuss machte Günzel keineswegs einen
verwirrten Eindruck. Im Gegenteil. Der frühere KSK-Kommandeur redete Klartext. Er gab den
Abgeordneten einen tiefen Einblick in das Dilemma, in dem sich die Kommando-Soldaten
während ihre Einsatzes 2002 befunden haben, ja zum Teil auch heute noch befinden. Es geht
um die Frage, wie mit gefassten mutmaßlichen Terroristen oder anderen Verdächtigen
umgegangen wurde bzw. umgegangenen werden soll.
Zur Erinnerung: Nach den Anschlägen vom 11. September sicherte Bundeskanzler Schröder
den USA die uneingeschränkte Solidarität der Bundesrepublik zu. Deutschland beteiligte
sich an der von den USA geführten Anti-Terror-Operation Enduring Freedom. U.a. wurden bis
zu 100 Spezialkräfte für diese Mission bereitgestellt. In dem vom Bundestag bereits
fünfmal verlängerten Mandat ist der Auftrag der Spezialkräfte wie folgt definiert:
"Diese Operation hat zum Ziel, Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von
Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und vor Gericht
zu stellen sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten
abzuhalten. Deutsche bewaffnete Streitkräfte tragen dazu mit ihren Fähigkeiten
bei."
Für die Bundesregierung war jedoch von Anfang an klar, dass in Afghanistan gefasste
mutmaßliche Terroristen nicht in Deutschland vor Gericht gestellt werden sollten. Es
blieb also nur die Übergabe an die Bündnispartner - konkret an die US-Streitkräfte.
Doch mit der Auslieferung bestand zugleich die Gefahr, dass den Verdächtigen die
Todesstrafe drohen könnte. Ist dies erkennbar, dann ist nach deutschem Rechtsverständnis
eine Übergabe von Verdächtigen allerdings nicht zulässig. Das verbietet das
Grundgesetz. Die Rechtsberater der Bundeswehr versuchten daher, mit einem Kunstgriff
dieses Problem zu lösen. Den an den Hindukusch entsandten Kommando-Soldaten gaben sie
Folgendes mit auf den Weg: Das KSK sollte den Verdächtigen nicht festnehmen,
sondern bloß festhalten. Nach Eintreffen der eilig herbeigerufenen Amerikaner
würde man die Person quasi wieder "loslassen". Die Folge: Die US-Soldaten
konnten ihn nun selbst ergreifen und in ihre Obhut nehmen.
Ein äußerst fragwürdiges Verfahren, wie auch der ehemalige KSK-Kommandeur Günzel im
Untersuchungsausschuss beklagte. Denn ein echter Ausweg aus dem Dilemma der Soldaten war
diese Konstruktion in Wirklichkeit nicht. Ob "festgenommen" oder
"festgehalten" - den übergebenen mutmaßlichen Terroristen drohte die
Todesstrafe oder aber die Inhaftierung in Guantanamo. Und deutsche Soldaten hätten sich
daran möglicherweise mitschuldig gemacht zumindest moralisch. Günzel hatte sich
damals bemüht, für seine Soldaten mehr Rechtsklarheit zu bekommen. Vergeblich. Das
Verteidigungsministerium hielt die künstliche Unterscheidung zwischen Festnahme und
Festhalten für den Königsweg. Eine schriftliche Weisung für die Soldaten gab es
allerdings nicht.
Möglicherweise auch deshalb nicht, weil es in der Bundesregierung in dieser Frage
unterschiedliche Auffassungen gab. Zwar hatten Fachleute des Auswärtigen Amtes und des
Justizministeriums das Problem 2002 zusammen mit Rechtsexperten des
Verteidigungsministeriums erörtert. Konkrete Folgen hatten diese Gespräche für die
KSK-Soldaten allerdings nicht.
Fragen, ob Bundeswehr-Soldaten mutmaßliche Terroristen an US-Truppen übergeben haben,
weicht die Bundesregierung bis heute aus: Ihr seien keine Fälle der Gefangennahme durch
deutsche OEF-Streitkräfte bekannt, so lautete zuletzt im November die Antwort auf eine
Kleine Anfrage der Links-Fraktion im Bundestag. OEF seht für Operation Enduring Freedom.
Auch von Gefangenen-Übergaben an afghanische Behörden will die Bundesregierung keine
Kenntnis haben. Nicht nur für manchen Bundestagsabgeordneten ist diese Darstellung
unglaubwürdig.
Andere NATO-Staaten sind da erheblich offener. So haben beispielsweise die Niederlande,
Großbritannien und Kanada eingeräumt, Verdächtige an afghanische Stellen übergeben zu
haben. Im vergangenen Jahr war von weniger als 100 Personen die Rede. Angesichts der
heftigen Kämpfe im Süden Afghanistans und den ISAF-Erfolgsmeldungen dürfte sich diese
Zahl inzwischen allerdings beträchtlich erhöht haben. In der NATO hat man sich darauf
verständigt, dass die Übergabe innerhalb von 96 Stunden geschehen muss, so ist es im vom
NATO-Rat gebilligten Operationsplan festgelegt.
Doch das Dilemma für die Soldaten bleibt. Denn auch in Afghanistan gibt es die
Todesstrafe. Verdächtige müssen zudem mit Misshandlungen und Folter rechnen. Einen
fairen Prozess haben sie nicht unbedingt zu erwarten. Um aber rechstaatliche
Mindeststandards für übergebene Personen sicherzustellen haben mehrere Nato-Staaten
schon vor einiger Zeit bilaterale Abkommen mit der afghanischen Regierung geschlossen. Sie
sollen u.a. verhindern, dass die Gefangenen misshandelt oder aber Dritt-Staaten übergeben
werden. Außerdem haben diese Länder sich zusichern lassen, dass das Internationale
Komitee vom Roten Kreuz auch nach einer Übergabe Zugang zu diesem Personenkreis hat.
Nachdem die Bundesregierung die deutschen Soldaten jahrelang in einer rechtlichen
Grauzone operieren ließ, ist mittlerweile das Verteidigungsministerium zu der Erkenntnis
gekommen, dass es auf diesem Feld erheblichen Handlungsbedarf gibt. Am 26. April wurde ein
schriftlicher Befehl erteilt, der vorschreibt, wie mit Personen zu verfahren ist, die bei
Auslandseinsätzen in Gewahrsam genommen worden sind. Die Weisung enthält in der Anlage
gleich mehrere Formulare, die in einem solchen Fall auszufüllen sind. Der Befehl soll
sicherstellen, dass die geltenden völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Grundlagen
beachtet werden. Unter Punkt acht heißt es u.a.:
"Die Übergabe der in Gewahrsam genommenen Personen an Sicherheitskräfte aus
Drittstaaten ist untersagt, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beachtung
menschrechtlicher Mindeststandards nicht gewährleistet ist."
Auf Nachfrage von NDR Info teilte das Verteidigungsministerium mit, für diesen Befehl
gebe es keinen konkreten Anlass. Er diene lediglich der Klarstellung und fasse im
Wesentlichen die bisherigen Einzelanweisungen für die Einsatzkontingente der Bundeswehr
zusammen.
Auch wenn nach Angaben der Bundesregierung bisher keine Personen an afghanische
Behörden übergeben worden sind: offensichtlich wird mit solchen Transfers inzwischen
aber gerechnet. Denn im März hat die Bundesregierung der afghanischen Regierung ein
Abkommen vorgelegt, das sicherstellen soll, dass übergebene Gefangene in Übereinstimmung
mit dem internationalen Völkerrecht behandelt werden.
Dieser Vertrag orientiert sich weitgehend an Übereinkommen, die bereits andere Staaten
mit Kabul getroffen haben zum Beispiel die Niederlande, Großbritannien und Kanada.
Ursprünglich war eine NATO-einheitliche Vereinbarung angestrebt worden. Doch in der
Allianz gingen die Vorstellungen, was zu den Mindeststandards gehört, weit auseinander.
Nicht zuletzt, weil einige Bündnismitglieder selbst noch an der Todesstrafe festhalten.
Vorbehalte gab es insbesondere von der Türkei und Frankreich. Offenbar wurde auch
befürchtet, dringend benötigte Befragungsergebnisse könnten ggf. nicht erreicht werden.
Mutmaßliche Terroristen und andere Verdächtige werden nach Informationen der
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in der Regel dem afghanischen Geheimdienst
NDS übergeben. NDS steht für National Directorate of Security. Dieser Dienst hat den
Ruf, Gefangene nicht gerade zimperlich zu behandeln. Folter sei üblich, stellte nicht nur
die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, im vergangenen Jahr fest. Auch
das US-Außenministerium teilt diese Einschätzung.
Im April berichtete die kanadische Zeitung GLOBE AND MAIL, 30 von den kanadischen
Streitkräften übergebene Gefangene seien von afghanischen Sicherheitskräften
misshandelt und gefoltert worden trotz einer bilateralen Vereinbarung, die dies
eigentlich verhindern sollte. Die Regierung in Ottawa geriet mächtig unter Druck. Ihr
wurde vorgeworfen, die Gefangenen trotz Kenntnis der Foltervorwürfe an afghanische
Stellen ausgeliefert zu haben. Inzwischen wurde das Abkommen nachgebessert. Ob damit aber
derartige Vorfälle künftig verhindert werden können, das steht dahin.
Welche Vorkehrungen die Bundesregierung in ihrem dem afghanischen Außenministerium
übermittelten Abkommen gegen solchen Missbrauch getroffen hat, bleibt vorerst ebenfalls
ungewiss. Denn das Papier schmort noch immer in den Amtsstuben von Kabul. Es werde noch
geprüft, heißt es. Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums bleibt es bis dahin
dem deutschen Kontingentführer in Afghanistan vorbehalten, über einen Transfer von in
Gewahrsam genommenen Personen zu entscheiden. Einzige Ausnahme: Dem Betroffenen droht die
Todesstrafe. Dann behält sich das Verteidigungsministerium vor, selbst über das weitere
Vorgehen zu entscheiden.
Andreas Dawidzinski ist freier Journalist.
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