Gastbeitrag, erschienen in der Frankfurter Rundschau
13. August 2005


Irans Atomkonflikt in der Sackgasse:

Neuer Golfkrieg kann nur durch Atomwaffenfreie Zone gebannt werden

Prof. Dr. Mohssen Massarrat

... Der UN-Sicherheitsrat beschließt auf Betreiben der USA harte Sanktionen gegen den Iran. Die USA und Israel drohen dem Iran mit Präventivkrieg. Als Reaktion darauf beginnt die iranische Marine, im Persischen Golf Minen zu verlegen. Der Iran kündigt an, den gesamten Öltransport zu blockieren. Der Westen reagiert auf diese erschreckende Nachricht mit Empörung, Strangulierungsängste begünstigen antiislamische Ressentiments, das Gespenst von der islamischen Bedrohung gegen die Freiheit und den Wohlstand des Westens geht erneut um die Welt. Russland und China verhalten sich im Konflikt, angesichts des Ernstes der Lage, neutral, die USA beginnen mit Vorbereitungen für einen Militäreinsatz. Eine Neuauflage der Kriegsallianz von 1990, diesmal gegen den Iran, erscheint in Sicht, der Westen bewegt sich auf einen neuen Ölkrieg zu.

Die Reaktionen auf der anderen Seite der Front lassen nicht lange auf sich warten. Millionen Iraner, nicht nur Regimeanhänger, sondern auch Reformer und national Gesinnte, beteiligen sich an antiamerikanischen Demonstrationen, Tausende melden sich freiwillig für die Front. In Islamabad, Damaskus, Jakarta gibt es spontane antiwestliche Demonstrationen aus Solidarität mit ihren Schwestern und Brüdern im Iran. Die Hisbollah-Miliz im Südlibanon wird mobilisiert, die radikalen Schiiten eröffnen eine neue Kriegsfront gegen die US-Besatzungsmacht im Irak. In Pakistan spitzt sich die Lage zu, ein Putsch gegen Amerikas Freund Pervis Musharraf kann nicht mehr ausgeschlossen werden, die USA erwägen deshalb eine Militärintervention auch in Pakistan, um das pakistanische Atomwaffenarsenal vor dem Zugriff der Islamisten in der pakistanischen Armee sicherzustellen. Al Qaida nutzt die Gunst der Stunde und ruft zum Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen auf, eine neue Welle von Selbstmordattentätern in westlichen Staaten, auch in Berlin und Paris, mit vielen Toten und Verletzten, schließt den Kreislauf der Gewalt. Huntingtons Krieg der Kulturen wird zur bitteren Realität. …

… Zu dieser Eskalation, die die Welt an den Rand des Chaos führte, kam es, weil die EU-Verhandlungen scheiterten und der Iran mit der Urananreicherung in vollem Umfang begonnen hat. …


Der Iran hat ein Sicherheitsproblem

Zugegeben: das oben Beschriebene ist ein Horror-Szenario – unrealistisch ist es aber trotzdem nicht. Das denkbar Mögliche in seiner ganzen Tragweite zu denken, kann helfen gegenzusteuern, bevor es zu spät ist. Auf der EU lastet dabei eine große Verantwortung. Kann sie aber die Eskalation verhindern? Ihre Verhandlungsstrategie ist allerdings in eine Sackgasse geraten, sie zielt offenbar darauf, dem Iran die moralische Schuld für das Scheitern der Verhandlungen zuzuschieben, was wiederum die Eskalation verschärft. Die Verhandlungen sind gescheitert, weil die EU sich um den eigentlichen Konfliktkern herummogelt und weil der Iran das eigene militärische Problem hinter der friedlichen Nutzung der Atomenergie versteckt.

Der Iran ist durch die militärische Präsenz der USA im Irak, Afghanistan, Saudi Arabien und den zentralasiatischen Staaten von allen Seiten regelrecht eingekreist. Hinzu kommt das noch schwerwiegendere Sicherheitsproblem, das Israels atomares Arsenal hervorruft. Israel verfügt über 200 – 300 atomare Sprengköpfe und alle dazugehörenden Trägersysteme. Dadurch liegt der gesamte Mittlere und Nahe Osten, also auch Iran, in der Reichweite von Israels Atomwaffen. Dieser Weg ist die gefährlichste und im übrigen auch teuerste Option, um Israels Sicherheit zu garantieren, er entfesselt vielmehr ein Wettrüsten in der gesamten Region. Die politische Elite der Islamischen Republik reagiert darauf mit eigenen aufwändigen Aufrüstungsprogrammen. Dabei folgt sie der mörderischen Logik der Ballence of Power (Gleichgewicht der Kräfte) einer im Westen selbstverständlichen Doktrin aus der realistischen Schule. Zu diesen Aufrüstungsprogrammen gehört auch die vollständige Beherrschung der Nukleartechnologie. Die Urananreicherung spielt dabei eine Schlüsselrolle, die alle politischen Instanzen des Iran im Konsens als unverhandelbares Recht deklarieren. Auch der neue iranische Präsident Ahmadinedschad lässt daran keinen Zweifel. Sein Ziel ist ein "fortschrittlicher und starker Iran". Irans Position mag völkerrechtlich und machtpolitisch nachvollziehbar sein, sie ist aber dennoch keine Lösung für sein Sicherheitsproblem. Iranische Atomwaffen verschärfen das Wettrüsten in der Region und sind daher inakzeptabel. Genau so inakzeptabel ist aber auch Israels Atomarsenal.


Die EU im Schlepptau der USA

Die Europäische Union verlangt vom Iran einen dauerhaften Verzicht auf die Urananreicherung und bietet als Gegenleistung wirtschaftliche Anreize und die Bereitstellung von nuklearen Brennstoffen zur Stromerzeugung. Im Klartext sagt die EU zum Iran: Ihr dürft auf keinen Fall in den Besitz von Atombomben kommen - und Euer Sicherheitsproblem ist für uns zweitrangig. Auf diese Weise liefert die EU der im Iran und in der gesamten islamischen Welt ohnehin vorherrschenden Meinung neue Nahrung, sie verfolgten ebenso wie die USA eine Politik mit zweierlei Maß: Israels Atomwaffen würden geduldet, islamischen Ländern dieselben aber versagt. Mit ihrer gegenwärtigen Position befindet sich aber die EU im Schlepptau der US-Politik der militärischen Einkreisung Irans. Der Iran wird so dazu getrieben, sein Atomprogramm erst recht in vollem Umfang wieder aufzunehmen und, wenn nötig, auch aus dem Atomsperrvertrag auszusteigen. Mit der Schuldzuweisung an die iranische Adresse kaschiert die EU, dass sie bisher die historische Chance verpasst hat, eigenständige friedenspolitische Alternativen zu entwickeln. Stattdessen liefert sie nun bewusst oder unbewusst die moralische Legitimation für UN-Sanktionen gegen den Iran und den Beginn einer neuen und gefährlichen Eskalation ganz im Sinne der US-Neokonservativen.


Noch ist nicht alles verloren

Die EU hätte immer noch die Möglichkeit, das Ruder herumzureißen und die Kriegsperspektive abzuwenden. Dazu müsste sie als weitere Gegenleistung für den iranischen Verzicht auf Urananreicherung eine baldige Konferenz für die Schaffung einer Atomwaffenfreien Zone im Mittleren und Nahen Osten in Aussicht stellen. Dies wäre für die EU eine, vielleicht sogar die einzige, Möglichkeit zu einem Befreiungsschlag in letzter Minute, um aus der Sackgasse herauszukommen. So könnte ein neues Fenster geöffnet werden, das es dem Iran erlaubt, auf die Urananreicherung bis auf weiteres doch noch zu verzichten. Dadurch wird es auch möglich, die Zukunft für die gesamte Region neu zu denken. Die Perspektive einer Organisation der regionalen Sicherheit für den Mittleren und Nahen Osten (OSZMNO) ist ohnehin die einzig denkbare Grundlage nicht nur für eine dauerhafte Sicherheit der westlichen Ölversorgung und für die Existenz Israels, sondern auch für die friedliche Regelung zahlreicher anderer grenzüberschreitender ethnischer Konflikte sowie Streitigkeiten um die Nutzung von Ölquellen, Wasserquellen und Wasserstrassen. Europa ist die einzige politische und moralische Macht, die dieses Fenster des Friedens für eine der sensibelsten Regionen der Welt öffnen kann. Es lohnt sich, dafür propagandistische Angriffe der US-Neokonservativen und von Israels Scharon auf sich zu nehmen: Reformkräfte in der gesamten Region, auch in Israel, erhielten neuen Auftrieb und der innenpolitische Konsens für Atomwaffen verlöre im Iran seine Legitimation. Aber auch in Israel könnte eine offene Debatte über Alternativen zur atomar gestützten Sicherheitspolitik beginnen.

Haben aber die drei führenden EU-Staaten Deutschland, Frankreich und Großbritanien den Willen und den Mut für diese Aufgabe und diese historische Chance?

 

Nachtrag vom 19. August 2005:

Ein Sieben-Punkte-Plan für den Iran

Ob nun Europa es will oder in der Lage ist, die historische Chance zu nutzen, die Islamische Republik Iran hat ein substanzielles Interesse an Frieden und politischer Stabilität im Großraum Mittlerer Osten. Der Iran hat dank seiner geopolitischen Lage auch vielfältige Möglichkeiten, die Perspektive für eine massenvernichtungswaffenfreie Zone zum wichtigsten Thema der Weltpolitik und vor allem des Mittleren Ostens zu machen. Er hat auch gute Voraussetzungen, die Führung bei dieser zukunftsfähigen Perspektive zu übernehmen und dabei die gegenwärtige internationale Isolation in ihr Gegenteil zu verkehren. Dadurch könnte gleichzeitig der US-Hegemonialstrategie, die auf Spaltung, Destabilität, Feindschaft, Misstrauen, Konflikten und Kriegen in dieser besonders sensiblen Region aufbaut, die Grundlage entzogen werden. Diese Perspektive dürfte in der Region, auch in Israel, und darüber hinaus auch international, selbst in den Vereinigten Staaten, auf Zustimmung stoßen. Gegner einer solchen iranischen Initiative, ganz besonders Hegemonialpolitiker und Kriegstreiber in Washington, hätten es schwer, der Welt ihre ablehnende Haltung zu erklären und würden sich selbst isolieren. Diese Perspektive braucht aber seitens Iran eine kluge und gut durchdachte Strategie, die im folgenden Sieben-Punkte- Plan skizziert werden kann:

  • Die Islamische Republik Iran erklärt die Errichtung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren und Nahen Osten zum vordringlichsten Ziel ihrer Mittel- und Nahostpolitik und fordert alle Staaten der Region – einschließlich Israel – auf, sich grundsätzlich zu Verhandlungen über dieses Ziel bereit zu erklären.
  • Der Iran unterbreitet allen Staaten der Region einen Verfahrensvorschlag für den Beginn einer regionalen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit.
  • Der Iran erklärt seine Bereitschaft, mit dem Beginn der Verhandlungen die Urananreicherung als vertrauensbildende Maßnahme bis auf weiteres freiwillig auszusetzen.
  • Der Iran bietet allen Staaten der Region ebenfalls als vertrauensbildende Maßnahme an, bilaterale Nichtangriffsabkommen zu vereinbaren.
  • Der Iran schlägt Irak und den Mitgliedsstaaten des Golfkooperationsrates die Bildung einer gemeinsamen Kommission vor, mit dem Ziel, Verfahren und Regeln für den Zugang zu internationalen Gewässern, zur Beilegung von Streitigkeiten bei der gemeinsamen Nutzung des Shatt-al-Arab und bei den grenzüberschreitenden Öl- und Gasvorkommen sowie zur Klärung sonstiger Territorialfragen zu entwickeln.
  • Der Iran erklärt sich bereit, gemeinsam mit allen Staaten im Mittleren und Nahen Osten Schritte zur Reduzierung der Militärpotentiale und zur Entwicklung von Konzepten zur gemeinsamen Sicherheit einzuleiten.

Der Iran schlägt die Schaffung eines Regionalfonds vor, der dazu dienen soll Aufbauprogramme in Palästina, Kurdistan und allen schwach entwickelten Regionen zu fördern sowie gemeinsame ökonomische und soziale Projekte und Aufbauprogramme, wie die Einrichtung eines grenzüberschreitenden Stromnetzes für die gesamte Region zu finanzieren. Das gleiche gilt auch für die Einrichtung von Meerwasserentsalzungsanlagen, für Programme zur Armutsbekämpfung, zur Alphabetisierung und zur medizinischen Grundversorgung im Gesundheitsbereich, die Einrichtung von Institutionen für den Katastrophenschutz, für Programme zur Bekämpfung von Wüstenausbreitung und zum Ausbau regenerativer Energienutzung sowie zur Einrichtung von gemeinsamen Forschungsinstituten und Universitäten.

 


 

ist gebürtiger Iraner, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und forscht u. a. über Konfliktstrukturen und Friedensperspektiven im Mittleren und Nahen Osten