Nach US-Ausstieg aus Open Skies: Experte befürchtet
„Vertrauensschaden“
Interview von Paul Linke mit Otfried Nassauer
Die Aufkündigung des Open-Skies-Abkommens durch die USA
stößt weltweit auf Unverständnis. Welche Bedeutung das
Abkommen für die globale Sicherheit hat und was hinter der
Aufkündigung steckt, erklärt der Abrüstungsexperte vom
„Berliner Informationszentrum für transatlantische
Sicherheit“ (BITS) Otfried Nassauer im Sputnik-Interview.
- Herr Nassauer, das Open
Skies-Abkommen steht kurz vor dem Aus. Was ist das für ein
Abkommen? Und wie wichtig ist der Vertrag noch heute?
Der Open Skies-Vertrag oder auch der Vertrag über den Offenen
Himmel wurde 1992 abgeschlossen und ist seit 2002 in Kraft mit 34
Vertragsparteien, die im Prinzip alle OSZE-Staaten sind. Er erlaubt
diesen Parteien das Überfliegen des Territoriums der anderen
Vertragsparteien entsprechend und entlang bestimmter festgelegter
Quoten, wer wie viele Flüge machen darf. Insgesamt waren es seit
dem Inkrafttreten mehr als 1.500 Flüge, die inzwischen
durchgeführt worden sind mit optischen
Aufklärungsgeräten an Bord, deren technische Qualität
gemeinsam festgelegt worden sind. Bei diesen
Aufklärungsflügen dürfen militärische Anlagen der
anderen Seite fotografiert und die Fotos dann ausgewertet werden. Damit
kann zum Beispiel überprüft werden, ob der Vertrag über
konventionelle Streitkräfte in Europa oder auch nukleare
Stationierungen auf dem Territorium des überflogenen Staates den
Angaben entsprechen, die international von diesen Staaten gemacht
worden sind. Der Kernzweck dieses Vertrages ist also Vertrauensbildung.
Zu dieser Vertrauensbildung gehört auch, dass beide Parteien zur
Besatzung gehören und beide die Ergebnisse der Flüge nutzen
dürfen.
- Aber man hat doch heute Weltraumsatelliten. Ist dann dieser Vertrag aus technischer Sicht nicht obsolet?
Der Vertrag ist aus technischer Sicht für Staaten, die technisch
so weit entwickelte Satelliten haben wie die USA im Prinzip kein
großer Zugewinn mehr, weil die Satellitenfotografie der
Amerikaner bessere Auflösungen zulässt als die
Überflüge. Aber schon kleinere Staaten, wie zum Beispiel
Deutschland, haben nur eine begrenzte Satellitenfähigkeit und
können auch nur in begrenztem Umfang Bilder von gleicher oder
besserer Qualität beschaffen, wie durch diese Überflüge.
Für kleine Staaten wie die baltischen Staaten und viele andere
auch, ist er eine zentrale Chance an Aufklärungsinformationen zu
kommen, mit denen sie überprüfen können, ob ein
Nachbarstaat böse Absichten hat oder nicht. Ob er Truppen an der
Grenze konzentriert oder nicht. Die Ukraine hat zum Beispiel solche
Flüge von westlichen Staaten genutzt, um über der Ostukraine
festzustellen, ob sich auf der russischen Seite der Grenze
größere Truppenkonzentrationen ansammeln.
- Also, ist dieser Vertrag aus ihrer Sicht heute noch wichtig?
Er ist vor allem deswegen wichtig, weil Staaten, die keine
Möglichkeit haben hochauflösende Satellitenbilder zu machen,
von diesen Daten ganz gewaltig zehren und die Daten ihnen als
vertrauensbildende Maßnahmen helfen, die sicherheitspolitische
Lage einzuschätzen. Wenn sie diese Flüge nicht hätten,
wären sie auf Informationen anderer Staaten angewiesen, die ihnen
diese freiwillig zur Verfügung stellen. Das heißt mit
anderen Worten, sie wären relativ leicht manipulierbar.
- Dann ist es umso verständlicher, wenn die USA sagen, wir brauchen diesen Vertrag nicht, wir steigen aus.
Das ist aus amerikanischer Sicht so, wenn man die Position vertritt,
Rüstungskontrolle nützt uns eigentlich relativ wenig und wir
haben bessere Aufklärungsmöglichkeiten als diese Flugzeuge,
auf der einen Seite verständlich, aber auf der anderen Seite wirkt
es der Vertrauensbildung in Europa entgegen und verhindert diese auch
für den Fall, dass anderen Staaten mit austeigen sollten. Davon
bin ich aber noch nicht überzeugt, dass überhaupt andere
Staaten mit austeigen werden. Ich sehe das nicht. Es ist eigentlich
eine unikäre Position der USA, dass sie aufgrund der Qualität
ihrer Satellitenbilder auf Open Skies völlig verzichten wollen.
- Nun, die USA sagen ja nicht,
wir steigen einfach aus, weil es für uns kein Interesse mehr
darstellt, sondern sie haben ja auch einige Kritikpunkte. Diese lauten
zum Beispiel: Russland habe seine Beobachtungsflüge dazu genutzt,
um eigene Waffen auf Ziele in den USA zu richten. Der russische
Vize-Außenminister, Sergej Rjabkow, bezeichnete diese
Anschuldigung als lächerlich. Er erläuterte, dass bei den
Beobachtungsflügen weder die vereinbarte Bildschärfe noch die
anderen Einstellungen der Überwachungsgeräte geändert
werden könnten und dass Vertreter des zu überwachenden Landes
immer mitfliegen würden. Hier sei also „kein
Schummeln“ möglich. Ist es so?
Ich denke, dass ein Schummeln weder möglich noch intendiert
gewesen ist. Im Wesentlichen haben sich die USA über
Überflüge des Regierungsbereichs in Washington und einiger
anderer Stellen, wie zum Beispiel einem Golfklub von Herrn Trump,
irritiert gezeigt. Für einen Missbrauch der dabei gewonnenen Daten
haben sie meines Wissens keine Belege vorgelegt.
- Gibt es weitere Gründe, die die US-Seite aufführt, um aus dem Vertrag auszusteigen?
Ja, aus völkerrechtlichen Gründen gibt es verschiedene
Sichtweisen, die zu unterschiedlichen Handhabungen des Vertrags
führen. Zum Beispiel sieht der Vertrag vor, dass ein Streifen von
zehn Kilometern Breite an Grenzen zu Nicht-Vertragsparteien mit den
Open Skies-Flügen nicht überflogen werden darf. Da Russland
Südossetien und Abchasien als unabhängige Regionen anerkannt
hat, werden die Überflugverbote von Russland für die
Grenzstreifen zu diesen beiden Regionen von westlicher Seite als
illegal bezeichnet. Georgien verbietet Russland im Gegenzug
Überflüge über georgischem Territorium, was eine klare
Verletzung des Vertrages darstellt, aber da Georgien argumentiert, die
beiden Republiken gehören weiter zu uns, und das resultiert dann
in einem Problem für beide Seiten. Ein anderes Beispiel ist der
von Russland angebotene Überflug der Krim, um die
militärischen Kapazitäten auf der Krim aus der Luft
kontrollieren zu können. Dieses Angebot wurde von den westlichen
Staaten nicht angenommen, weil sie der Auffassung waren, dass sie dann
die Zugehörigkeit der Krim zur Russischen Föderation von sich
aus indirekt anerkennen würden. Und schließlich gibt es noch
die Streitigkeiten über die Länge der Überflüge
über der Exklave Kaliningrad.
- Wie sehen die konkret aus?
Russland hat längere Zeit die Überflüge über
Kaliningrad auf circa 500 Kilometer begrenzen und keine längeren
Überflüge zulassen wollen. Angesichts der Größe
von Kaliningrad kann man mit 500 Kilometern Reichweite dieses Gebiet
mehrfach überfliegen innerhalb der von Russland zugelassenen
Reichweite. Die Retourkutsche der USA lautete: Überflüge
über Hawai einschränken. Aber das ist auch ein Streitpunkt,
bei dem ich sage: den kann man in technischen Kommissionen des
Vertrages miteinander aushandeln und auch dafür eine Lösung
suchen.
- Die
Rüstungskontrollverträge ABM, INF sind Geschichte. New-Start
und Open Skies stehen kurz vor dem Aus. Warum kündigen die USA
einen Rüstungskontrollvertrag nach dem anderen? Was steckt
dahinter? Gibt es etwas zu verbergen? Neue Technische Entwicklungen
vielleicht?
Ich glaube nicht, dass es im Wesentlichen an neuen technischen
Entwicklungen liegt. Es liegt eher an einer Grundhaltung bestimmter
amerikanischer politischer Strömungen, die Rüstungskontrolle,
die Rüstungsbegrenzung beinhaltet, im Wesentlichen als hinderlich
betrachten. Es liegt auch daran, dass sie das im Kalten Krieg
aufgebaute System von Rüstungskontrolle, teilweise auch die
vertrauensbildenden Maßnahmen, heute nicht mehr für
nötig halten. Sie argumentieren: wir sind eh der Stärkste und
wir brauchen das nicht. Das ist nur dazu da, um uns zu begrenzen und zu
behindern - nicht aber die anderen.
- Das ist ja auch
verständlich. Man kann durchaus die Position Trumps
nachvollziehen. Die USA sehen ihren Fokus nun auf China, das wiederum
nicht Teil des Open Skies-Abkommens ist. Da bringt es relativ wenig,
nur an Vereinbarungen mit Russland und anderen Staaten festzuhalten.
China ist nicht Mitglied des Abkommens über den Offenen
Himmel. Der geht nur von Vancouver bis Wladiwostok und Peking liegt
außerhalb. Ich glaube aber nicht, dass, wenn solche Flüge
über China möglich wären, dies eine Änderung der
US-Position bedeuten würde. Auch, was China betrifft, können
die USA die überlegenen Fähigkeiten ihrer
Aufklärungssatelliten natürlich mühelos ins Spiel
bringen. Derjenige, der an dieser Stelle einen großen Nachteil
hat, ist Moskau. Russland darf auch nicht über China fliegen und
hat selber keine Aufklärungssatelliten vergleichbarer
Qualität wie die USA.
- Was droht der Welt durch die Aufkündigungen sämtlicher Kontrollverträge?
Wenn Rüstungskontrollverträge in dem Umfang beendet werden
wie das im Moment der Fall ist, dann hat das mehrere Folgen. Erstens:
Es gibt einen Vertrauensverlust zwischen den Staaten. Der ist
allerdings insgesamt in den letzten zehn Jahren ziemlich groß
geworden. Zweitens: Es gibt dann keine Obergrenzen für
Rüstung mehr. Man kann also neue Rüstungswettläufe
starten. Und drittens: Die Kombination aus beidem. Da, wo es kein
Vertrauen und keine Transparenz gibt, kommt man doch viel leichter auf
die Idee, dass es geheime Potenziale bei dem einen oder anderen gibt,
die einen bedrohen könnten. Und dann können irgendwelche
Theorien über Lücken entstehen, wo man aufholen muss, wo man
nachrüsten muss, wo man mehr Rüstung braucht, und dann in
neue Strukturen des Wettrüstens einsteigt, worin vielleicht in
Amerika einige auch den Vorteil sehen würden, dass sie in der Lage
wären, sowohl Russland als auch China relativ sicher
totrüsten zu können.
- Von Seiten der USA höre
ich aber auch immer einen Willen heraus, neue multilaterale
Verträge zu knüpfen, um Rüstung zu begrenzen.
Ja, solche Vorschläge gibt es immer wieder. Das interessante daran
ist nur, dass diese Vorschläge vor allem in Bereichen gemacht
werden, wo die Amerikaner relativ sicher sein können, dass solche
multilateralen Strukturen nicht zustande kommen werden.
Schaut man sich zum Beispiel die Nachfolge des New-Start-Vertrags an,
dann sagen die Amerikaner: Wir hätten erstens gerne, dass auch
alle substrategischen Atomwaffen unter einen Nachfolgevertrag fallen
und zweitens hätten wir gerne, dass die Chinesen mitmachen. Die
Chinesen vertreten seit 2004 eine durchgehende Position. Sie sagen: die
beiden Großen müssen auf unser Niveau von, sagen wir mal,
300 Sprengköpfen abrüsten, dann können wir gemeinsam
über weitere Abrüstung verhandeln. Bis dahin sehen wir uns
nicht veranlasst, selbst etwas Großartiges zu machen.
- Und rüsten selbst weiterhin fleißig auf?
Wenn ich die Zahl 300 genannt habe, dann habe ich eine gewisse
chinesische Aufrüstung von 110 Sprengköpfen bereits
kalkulatorisch drin gehabt. Als sie das 2004 sagten, haben sie deutlich
gemacht, wir haben das kleinste Nuklearpotenzial unter den
ständigen Nuklearmächten. Und das kleinste eines anderen
Staates war damals das der Briten mit 192 Sprengköpfen. Von den
Potentialen der USA und Russlands sind aber beide Zahlen noch weit
entfernt.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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