NATO-Operation in Afghanistan
Droht am Hindukusch ein zweites Irak?
von Otfried Nassauer
Im Rahmen der Operation Enduring Freedom - kurz OEF - beteiligt sich Deutschland am
sogenannten "Krieg gegen den Terror". Die Bundesrepublik schickt Soldaten zur
Terrorbekämpfung auf See ans Horn von Afrika und immer wieder einmal zu
Lande nach Afghanistan. Dort kommt dann das Kommando Spezialkräfte zum Einsatz und
kämpft gemeinsam mit amerikanischen Soldaten im Südosten gegen Taliban und Al Qaida.
Insgesamt waren in den vergangenen Monaten meist zwischen 250 und 300 Soldaten an der
Operation Enduring Freedom beteiligt.
Formal ist die Operation von der Stabilisierungsmission ISAF in Afghanistan strikt
getrennt. Bisher jedenfalls. ISAF so das Bild, das lange in Deutschland gezeichnet
wurde - dient der Stabilisierung und dem Wiederaufbau des Landes. Deutsche Soldaten
verstehen sich als Gäste im Land, die helfen. Gäste, die wieder gehen.
Enduring Freedom dagegen ist ein Einsatz im Rahmen des weltweiten Krieges gegen den
Terror, der von den USA geführt wird. Deutschland beteiligt sich in kleinem Umfang, um
Solidarität zu zeigen. Begründet wird die Mission u.a. mit dem NATO-Bündnisfall, den
die Allianz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausgerufen hat. Dieser
Kriegseinsatz so die Darstellung in Deutschland liefert die hässlichen
Bilder aus Afghanistan. Bilder aus dem umkämpften Süden und Osten des Landes. Bilder von
Anschlägen auf NATO-Soldaten, Bilder von irrtümlich durch Bombardierungen getöteten
afghanischen Zivilisten. Bilder der Misshandlung und Folter von Gefangenen, die Washington
für Terroristen hielt. Bilder aus einem Afghanistan, in dem die Taliban wieder erstarken
und ganze Regionen kontrollieren. Bilder, aus denen sich die Bundeswehr aber
offensichtlich auch immer weniger ganz heraushalten kann. Vor einigen Wochen noch
unterschied der außenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Jürgen Trittin, das
"Afghanistan des Nordens" von jenem des Südens, in dem eine
"Irakisierung" drohe.
Doch schon seit Monaten löst sich die scheinbar so messerscharfe Trennung der
Afghanistan-Missionen ISAF und OEF immer weiter auf, ganz so, wie sich das
unterschiedliche Bild von der Lage in Afghanistan bereits im kommenden Jahr ebenfalls
auflösen könnte hier der ruhige Norden, dort der umkämpfte Süden. Denn schon
bald könnten weitere Landesteile zum Kriegsgebiet werden.
Die NATO-Mission ISAF hat in diesem Jahr zunächst die Zuständigkeit zur
Stabilisierung des Südens und kürzlich auch die für den Osten des Landes von der
Operation Enduring Freedom übernommen - so wie es der Operationsplan 10302 des
Bündnisses vom Dezember 2005 vorsieht. Die Mission soll künftig ganz Afghanistan
stabilisieren. Dazu wurde ihr ein großer Teil der verbleibenden US-Truppen in Afghanistan
unterstellt, die zuvor zu Enduring Freedom gehörten. Umflaggen nennt man das. Seither
häufen sich die Meldungen über kanadische, britische und andere ISAF-Soldaten der NATO,
die bei Kämpfen oder Selbstmordanschlägen im Süden Afghanistans umgekommen sind. Bei
NATO-Luftangriffen kommen vermehrt afghanischen Zivilisten zu Tode. Immer öfter wird die
Lage als kritisch bezeichnet. Kanada sah sich genötigt, Kampfpanzer vom Typ Leopard nach
Afghanistan zu verlegen, die Niederlande flogen schwere Panzerhaubitzen 2000 ein. Im
Süden Afghanistans ist ISAF keine Stabilisierungsoperation, sondern eine Kriegsoperation.
Das ist in Teilen dem Mandat geschuldet: Zu dem gehört nämlich auch die
Aufstandsbekämpfung. Lediglich die Terrorbekämpfung ist noch die alleinige Domäne der
OEF. ISAF darf die Operation Enduring Freedom nur unterstützen, wenn damit das Leben
westlicher Soldaten geschützt werden kann, so der NATO-Operationsplan.
Doch wie sollen NATO-Soldaten aufständische Taliban von mutmaßlichen Al-Qaida
Terroristen unterscheiden? Schon das lässt die Grenzen zwischen beiden Missionen
verschwimmen. Zumal sie im selben Gebiet operieren. Dass ein Teil der amerikanischen
Kampfverbände jetzt der ISAF und damit dem NATO-Oberbefehl unterstellt worden ist, macht
sie nicht zu willkommenen Wiederaufbauhelfern. Aus Sicht der Taliban sind nun sowohl die
NATO-Truppen als auch die US-Streitkräfte Besatzer. Diese Truppen stabilisieren eine
korrupte Zentralregierung in Kabul sowie die Macht der Drogenfürsten und Kriegsherren im
Norden also jene Kräfte, die zur Entstehung und zum Aufstieg der Taliban geführt
haben. Heute sorgen sie erneut dafür, dass die Taliban wieder erstarken.
In Kürze übernehmen die USA für ein Jahr das ISAF-Oberkommando. Dann wird sich
zeigen, ob die ISAF der Mission OEF immer ähnlicher wird oder umgekehrt. Die Chancen für
eine primär am Wiederaufbau orientierte Zukunft von ISAF stehen schlecht. Die Zeichen
dafür, dass ISAF der Anti-Terror-Mission OEF immer ähnlicher wird, stehen dagegen gut.
Innerhalb der NATO wird bereits seit geraumer Zeit der Ruf lauter, dass sich die
NATO-Länder, die im Norden Wiederaufbau leisten, verstärkt bei den Kämpfen im Süden
engagieren sollen. Die aber wollen das nicht. NATO-interner Zwist ist angesagt. Zeitweilig
scherzten ISAF-Offiziere halbernst über einen bündnisinternen Konflikt zwischen der
Nordallianz und der Südallianz im Bündnis. Die Nordallianz, also die Truppensteller im
Norden, sei nicht bereit, die kämpfende Truppe im Süden zu verstärken. Die Südallianz
dagegen verweigere deshalb der Nordallianz den Einblick in Lageeinschätzung und
Operationsplanung.
Unabhängig davon, ob diese Schilderung ganz oder teilweise zutrifft: Sie zeigt, dass
die NATO, deren künftige Bedeutung und Glaubwürdigkeit oft und lautstark an einen Erfolg
des Einsatzes in Afghanistan gebunden wird, keineswegs eine einheitliche Zukunftsstrategie
für das Land am Hindukusch hat. Weder militärisch noch politisch. Fünf Jahre
nach dem Sturz der Taliban steht die Afghanistan-Mission des Westens auf der Kippe. Sie
befindet sich in der Defensive und sucht nach Auswegen, um eine offensichtliche Niederlage
zu vermeiden. Militärisch wie politisch.
Deutsche Medien berichten regelmäßig über das Scheitern Washingtons im Irak. Nicht
selten sogar mit schadenfrohem Unterton und versteckten oder offenen Ratschlägen,
Washington solle endlich aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und eine neue Strategie
für den Wiederaufbau des Iraks entwickeln. Seltener liest man ähnliches über
Afghanistan und den Einsatz der Bundeswehr. Dabei ist die Lage in Afghanistan kaum besser
als im Irak. Hier wie dort fehlt es an einer Strategie für den
wirtschaftlichen Wiederaufbau, der die Menschen überzeugt. Um eine solche zu entwickeln,
bleibt wohl nur der kommende Winter. Mehr Zeit gibt es wahrscheinlich nicht.
Im Januar 2007 übernimmt Deutschland die Präsidentschaft der Europäischen Union und
führt parallel die Geschäfte der Gruppe der acht wichtigsten Industriestaaten. Beide
Funktionen bieten die Chance, langfristig wirksame Initiativen zu ergreifen,
mehrheitsfähig zu machen und durchzusetzen. Die Bundesregierung hätte also beste
Voraussetzungen, um in Sachen Afghanistan aktiv zu werden und eine neue Strategie
vorzuschlagen. Dieses Vorhaben aber scheint man aufgegeben zu haben. Denn es findet sich
weder im jüngsten Afghanistan-Konzept der Bundesregierung noch im Kabinettsbeschluss zur
Ausgestaltung der deutschen G-8-Präsidentschaft. Ohne einen strategischen Neuansatz für
Afghanistan ist aber nur eines sicher: Die Taliban werden immer stärker.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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