Streitkräfte und Strategien - NDR info
13. Februar 2010

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Kurzfassung aus Streitkräfte und Strategien hier


Augenwischerei? – Deutschlands neue Rolle in Afghanistan

von Otfried Nassauer

Die Afghanistan-Konferenz in London ist vorüber. Die neue Afghanistan-Strategie steht: Bis 2014 soll die afghanische Regierung in die Lage versetzt werden, die Stabilität im Lande selbst zu gewährleisten. Vorübergehend werden deshalb die westlichen Streitkräfte erneut um etwa 35.000 Soldaten aufgestockt. 30.000 kommen aus den USA. Den Rest stellen die Verbündeten. Ziel ist es, die Taliban und andere Aufständische aus etwa 80 Schlüsseldistrikten möglichst dauerhaft zu vertreiben und zugleich die Zahl der afghanischen Sicherheitskräfte – Militär und Polizei - auf insgesamt mehr als 300.000 zu erhöhen. Diese sollen schrittweise die Verantwortung für die Sicherheit in einer wachsenden Zahl von Distrikten und Provinzen übernehmen. Schon ab 2011 – so die Hoffnung – könne mit dem Abzug der ersten internationalen Kräfte begonnen werden.

Inzwischen hat auch die Bundesregierung beschlossen wie es mit dem deutschen Engagement am Hindukusch weitergehen soll. Bis zu 850 zusätzliche Soldaten, mehr Ausbilder und mehr Geld für Militär und Wiederaufbau soll es geben. Damit wird umgesetzt, was in einem Ende Januar verabschiedeten Strategiepapier der Regierung steht: „Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung“ – so lautet der sperrige und vieldeutige Titel. In dieser Woche hat die Bundesregierung ihren Antrag für ein verändertes Afghanistan Mandat verabschiedet. In Kürze soll das Parlament es billigen.

Die neue Strategie soll eine neue Perspektive eröffnen. Verteidigungsminister zu Guttenberg:

O-Ton Guttenberg
„Der Ansatz der Bundesregierung enthält einen wirklichen Strategiewechsel. Einen Strategiewechsel dahingehend, dass wir mit diesem Wechsel auch eine glaubhafte Abzugsperspektive eröffnen wollen.“

Fast zehn Jahre nach dem Beginn der Afghanistan-Operation soll der Einstieg in den Ausstieg eingeläutet werden. Die neue Strategie zielt auf einen Abzug ohne Gesichtsverlust.

Eine Garantie, dass der neue Ansatz Erfolg haben wird, gibt es allerdings nicht. Es kann sie nicht geben. Schon deshalb nicht, weil es Präsident Karzai und seiner Regierung nach der zweifelhaften Wiederwahl Karzais an der notwendigen Legitimation mangelt. Aber auch, weil keineswegs sicher ist, dass mehr Sicherheitskräfte mehr Sicherheit schaffen werden.

Mit Stanley McChrystal hat Washington im Sommer jedoch einen ISAF - Befehlshaber nach Afghanistan entsandt, der erstmals fast alle Truppen im Land aus einer Hand führen darf. Außerdem hat der US-General eine klare Vorstellung darüber, wie er vorgehen will: Während der Anhörung im Kongress vor seiner Berufung stellte er im Juni seine Prioritäten vor: Erstens gehe es darum, die Bevölkerung vor Druck und Erpressung durch die Aufständischen zu schützen. Dazu müsse man die Taliban wo immer möglich aus wichtigen Distrikten vertreiben und so von der örtlichen Bevölkerung trennen. Zweitens müsse die Arbeit der afghanischen Regierung auf allen Ebenen verbessert werden. Nur so könne sie an Legitimität gewinnen. Und drittens gelte es, die Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte – Polizei und Militär – zu verbessern. Dazu müsse auch die Kommandostruktur des internationalen Einsatzes in Afghanistan verändert werden.

Das ist inzwischen geschehen: Ein neuer Stab in Kabul, das ISAF Joint Command, geleitet von dem amerikanischen General David Rodriguez, führt künftig alle Operationen der Sicherheitskräfte in allen Regionalkommandos. Operationen der US-Kräfte, die zur Anti-Terror-Operation Enduring Freedom OEF gehören und ISAF nicht unterstehen, koordiniert Rodriguez als Stellvertretender Kommandeur aller US-Streitkräfte in Afghanistan. Wie McChrystal, der zugleich ISAF-Chef und Befehlshaber der US-Truppen in Afghanistan ist, trägt auch Rodriguez zwei Hüte: Einen, der ihm Befehlsgewalt über die ISAF-Truppen gibt und einen, der es ihm erlaubt, den US–Verbänden der OEF Einsatzbefehle zu erteilen. McChrystal will auf diesem Weg schrittweise von einer geographisch-regionalen zu einer funktionalen Führungsstruktur für ganz Afghanistan kommen. Damit aber wird die Rolle der regionalen Befehlshaber etwa im Norden und Süden des Landes relativiert. Der ISAF - Befehlshaber in Kabul will dafür sorgen, dass die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte landesweit unter einheitlichem Befehl erfolgt. Um dies zu ermöglichen, entsteht z.B. eine NATO-Trainings-Mission Afghanistan (NTM-A). Dasselbe gilt für die Führung von Operationen zur Schwächung der Taliban und zur Sicherung von landesweit 80 Schlüsseldistrikten und für einen großen Teil der Operationen, die sich gegen den harten Kern der Taliban und al-Kaidas richten.

Auch für den Norden Afghanistans, in dem die Bundeswehr den Regionalkommandeur stellt, hat der neue Ansatz Folgen. Das Bundeswehrkontingent wird umgegliedert und um rund 500 Soldaten vergrößert. Statt 280 Bundeswehrsoldaten sollen sich künftig 1.400 Soldaten um die Ausbildung der afghanischen Streitkräfte kümmern und die Afghanen auch im Einsatz begleiten. Distrikt für Distrikt sollen so die Taliban-Kämpfer aus acht Schlüsseldistrikten im Norden verdrängt werden. Dazu zählen u.a. Aliabad, Kalabad, Acih, Chadar Rah, Kundus und Pol-e-Komri. Der Bevölkerung dort will man dann dauerhaft Schutz vor der Rückkehr der Aufständischen bieten. Verstärkte Wiederaufbaumaßnahmen sollen dieses Vorgehen absichern. Letztlich will die Bundeswehr afghanischen Sicherheitskräften die Zuständigkeit für die örtliche Sicherheit übergeben und sich hernach um die nächsten Distrikte kümmern. Auch die Schnelle Eingreiftruppe der Bundeswehr im Norden, die QRF, soll in diese Umgliederung einbezogen werden. Verteidigungsminister Guttenberg:

O-Ton zu Guttenberg
„Die Quick Reaction Force wird es nicht mehr geben, so wie es sie gab, sondern die Quick Reaction Force wird in ihrem Auftrag aufgelöst und gerade da finden die Umstrukturierungen statt. (...) Mit einem gewissen Aufwuchs werden die Ausbildungs- und Schutzkomponenten herausgebildet.“


Und der neue Generalinspekteur Volker Wieker ergänzt, man wolle

O-Ton Wieker
„die QRF heranziehen, um in Verbindung mit den bereits vorhandenen Sicherungskräften zwei Ausbildungs- und Schutzbataillone aufzustellen. Ein drittes wird gestellt (...) durch die Skandinavier im Westen, so dass dann drei Ausbildungs- und Schutzbataillone zur Verfügung stehen, die mit den drei Brigaden des 209. ANA-Korps ‚partnern‘ können.“

‚Partnern‘, d.h. Bundeswehreinheiten begleiten die Afghanen bei ihren Einsätzen. Für die Bundesregierung ist das ein Kurswechsel. In dem verabschiedeten Strategiepapier heißt es - Zitat:

„Dadurch erfolgt eine Schwerpunktverlagerung von dem gegenwärtig eher offensiven Vorgehen der QRF zu einer grundsätzlich defensiven Ausrichtung auf Ausbildung und Schutz“

„Grundsätzlich defensive Ausrichtung“ – das klingt beruhigend, zielt aber wohl vor allem darauf ab, skeptische Abgeordnete der Regierungsfraktionen und der Opposition dafür zu gewinnen, den Einsatz in Afghanistan weiter mitzutragen. Doch mit dieser Argumentation werden Parlament und Öffentlichkeit teilweise auch in die Irre geführt.

Erstens ist nicht zu erwarten, dass die Taliban widerstandlos abziehen werden, wenn die afghanischen Bataillone mit ihren deutschen Begleitern anrücken. Im Gegenteil: Da sie dauerhaft vertrieben werden sollen, werden sie – wo möglich - versuchen, den Vormarsch der afghanischen und deutschen Sicherheitskräfte in bisher nicht kontrollierte Distrikte verlustreich und teuer zu machen. Möglicherweise werden sie aber auch in andere Regionen ausweichen und dort für Unruhe sorgen. Dadurch könnten weitere Schlüsseldistrikte entstehen. Der erste Schritt zur künftig angestrebten, dauerhaften Präsenz in der Fläche wird deshalb wohl des öfteren mit offensiven Operationen einher gehen. Dafür könnte ein deutlich größerer Teil des deutschen Kontingents erforderlich sein als bei den bisherigen, zeitlich begrenzten Offensiven.

Zweitens argumentiert die Bundesregierung in ihrem Strategiepapier vom Januar so, als sei die Bundeswehr künftig alleine für die Sicherheit im Norden Afghanistans zuständig. Das stimmt schon heute nicht und in Zukunft gilt es noch weniger. In Nordafghanistan sollen künftig bis zu 5.000 US-Soldaten stationiert werden und die vorhandene, kleine Task Force ablösen, die bislang die Ausbildung von Grenzpolizisten überwacht. Etwa so viele wie auch die Bundeswehr dort hat. Ein Teil dieser Kräfte – die Rede ist von 1.200 bis 2.400 Mann - soll sich um die Ausbildung sowie um gemeinsame Einsätze mit der afghanischen Polizei und der Grenzpolizei kümmern und ebenfalls Schlüsseldistrikte sichern. Vorgesehene Standorte sind in Kunduz, Mazar i Scharif, Maymaneh, Ghormach, Sheberghan, Pol-e Khomri und Taloqan. Zu den US-Verstärkungen für den Norden wird auch eine Combat Aviation Brigade mit etwa 30 Transport- und Kampfhubschraubern gehören. Zwölf dieser Hubschrauber können auch Verwundete ausfliegen, von acht Kampfhubschrauber ist die Rede. Doch die endgültige Zusammensetzung der US-Truppen im Norden steht derzeit noch nicht fest. Sie hängt nicht zuletzt davon ab, wie groß der Bedarf an US-Kräften letztlich sein wird. Das ISAF-Hauptquartier unter General McChrystal erkundet derzeit noch den Bedarf. Offiziell angemeldet haben die USA deshalb bislang nur die ersten 2.500 Verstärkungssoldaten. Ob es bei der gegenwärtigen Planung der Bundeswehr bleibt, die davon ausgeht, dass die Aufgaben der deutschen QRF nicht von US-Kräften übernommen werden müssen, ist ungewiss und hängt ebenfalls davon ab, welche Kräfte die Generäle McChrystal und Rodriguez letztlich für erforderlich halten. Der Gouverneur von Kundus hat zum Beispiel andere Vorstellungen von der künftigen Präsenz der US-Streitkräfte als die Bundeswehr. Er wünscht sich die Anwesenheit einer möglichst großen, hart agierenden Kampftruppe aus den USA, die neben Aufständischen auch seine örtlichen Konkurrenten schwächen soll.

Die US-Kräfte sollen dem deutschen Kommandeur des Regionalkommandos taktisch unterstellt werden. Er erhält das Tactical Command (TACOM). Eine erweiterte gemeinsame Operationszentrale in Mazar-i-Scharif, in die zusätzliche US-Offiziere integriert werden, soll sie führen. Die bedeutsamere operative Befehlsgewalt, die sogenannte Operational Control (OPCON), liegt allerdings in Kabul bei General Rodriguez und seinem ISAF Joint Command. Der US-General erteilt dem deutschen Regionalkommandeur die Einsatzbefehle, die dieser umsetzen oder weiterleiten muss. Da Bundeswehr und US-Streitkräfte im Norden Afghanistans künftig mit Batallionsstrukturen arbeiten werden, die über eigene taktische Führungsstrukturen verfügen, werden die bisherigen Führungsaufgaben des deutschen Regionalkommandeurs von oben und unten zugleich beschnitten. Er hat künftig weniger Einfluss auf militärische Operationen und mehr Zeit, sich um den Wiederaufbau zu kümmern.

US-Kräfte, die zur Operation Enduring Freedom gehören und Spezialkräfte, die zur Jagd auf wichtige Taliban-Gruppen oder al-Kaida-Kämpfer im Norden eingesetzt werden, bleiben auch künftig unter nationalem US-Kommando. Ihre Einsätze werden mit dem Regionalkommando im Norden nur koordiniert, damit man sich nicht gegenseitig in die Quere kommt. „Friendly fire“ – der versehentliche Beschuss befreundete Kräfte soll vermieden werden. Geleistet wird die Koordination durch US-General Rodriguez.

Die größere Präsenz und der wachsende Einfluss der US-Streitkräfte im Norden Afghanistans kommen nicht von ungefähr. Für Washington liegen sie im wohlverstandenen Eigeninteresse. Der Nachschub für den Hauptteil der US-Streitkräfte im Osten und Süden Afghanistans wird immer häufiger über den bislang relativ ruhigen Norden herangeführt. Dies wurde im vergangenen Jahr nötig, weil es immer komplizierter und gefährlicher wurde, Nachschub durch die umkämpften Unruheprovinzen des afghanisch-pakistanischen Grenzgebietes zu transportieren. Die Verluste wurden zu groß und ganze Verbindungswege fielen weg. Da die Transporte nun verstärkt durch den Norden Afghanistans herangeführt werden, haben auch die Taliban dort ihre Aktivitäten seit einem Jahr deutlich verstärkt. Die nördliche Versorgungsroute besser abzusichern ist für die US-Streitkräfte von großer Bedeutung.

Das Bild der ISAF-Truppen im Norden wird also künftig nicht mehr vorrangig vom Auftreten der Bundeswehr geprägt. Die vorgeblich defensive Neuausrichtung bedeutet nicht zwangsläufig weniger Gefechte und Kämpfe. Ebenso großen Einfluss wird das Auftreten der US-Truppen haben. Ob die verstärkte Einbindung der afghanischen Sicherheitskräfte in die Operationen auf Distriktebene den gewünschten Effekt eines „afghanischen Gesichtes“ haben wird, bleibt abzuwarten. Und offen bleibt auch, ob die neue Afghanistan-Strategie tatsächlich eine glaubhafte Abzugs-Perspektive eröffnen wird.

Problematisch ist jedoch vor allem eines: Die Bundesregierung drängt den Bundestag zu einer raschen Entscheidung über das neue Mandat. Er soll seine Zustimmung geben, bevor klar ist, welche zusätzlichen Verbände der USA in den Norden Afghanistans verlegt werden und welche militärischen Möglichkeiten diese Kräfte künftig eröffnen. Die Entscheidung soll fällen, bevor klar ist, wie robust die NATO in Nordafghanistan künftig vorgehen wird. Die Bundesregierung gibt vor, eine Interpretationshoheit über die Umsetzung der neuen Strategie für Afghanistan zu haben, die sie de facto gar nicht hat. So manchem Abgeordneten könnte deshalb ein böses Erwachen drohen, wenn er mit „Ja“ gestimmt hat und sich in den kommenden Monaten mit den Auswirkungen eines Strategiewechsel konfrontiert sieht, den er in dieser Form nun wirklich nicht erwartet hatte.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS