Augenwischerei? – Deutschlands neue Rolle in Afghanistan
von Otfried Nassauer
Die Afghanistan-Konferenz in London ist vorüber. Die neue Afghanistan-Strategie
steht: Bis 2014 soll die afghanische Regierung in die Lage versetzt werden,
die Stabilität im Lande selbst zu gewährleisten. Vorübergehend
werden deshalb die westlichen Streitkräfte erneut um etwa 35.000
Soldaten aufgestockt. 30.000 kommen aus den USA. Den Rest stellen die
Verbündeten. Ziel ist es, die Taliban und andere Aufständische
aus etwa 80 Schlüsseldistrikten möglichst dauerhaft zu vertreiben
und zugleich die Zahl der afghanischen Sicherheitskräfte – Militär
und Polizei - auf insgesamt mehr als 300.000 zu erhöhen. Diese sollen
schrittweise die Verantwortung für die Sicherheit in einer wachsenden
Zahl von Distrikten und Provinzen übernehmen. Schon ab 2011 – so
die Hoffnung – könne mit dem Abzug der ersten internationalen Kräfte
begonnen werden.
Inzwischen hat auch die Bundesregierung beschlossen wie es mit dem deutschen
Engagement am Hindukusch weitergehen soll. Bis zu 850 zusätzliche
Soldaten, mehr Ausbilder und mehr Geld für Militär und Wiederaufbau
soll es geben. Damit wird umgesetzt, was in einem Ende Januar verabschiedeten
Strategiepapier der Regierung steht: „Auf dem Weg zur Übergabe in
Verantwortung“ – so lautet der sperrige und vieldeutige Titel. In dieser
Woche hat die Bundesregierung ihren Antrag für ein verändertes
Afghanistan Mandat verabschiedet. In Kürze soll das Parlament es
billigen.
Die neue Strategie soll eine neue Perspektive eröffnen. Verteidigungsminister
zu Guttenberg:
O-Ton Guttenberg
„Der Ansatz der Bundesregierung enthält einen wirklichen Strategiewechsel.
Einen Strategiewechsel dahingehend, dass wir mit diesem Wechsel auch
eine glaubhafte Abzugsperspektive eröffnen wollen.“
Fast zehn Jahre nach dem Beginn der Afghanistan-Operation soll der Einstieg
in den Ausstieg eingeläutet werden. Die neue Strategie zielt auf
einen Abzug ohne Gesichtsverlust.
Eine Garantie, dass der neue Ansatz Erfolg haben wird, gibt es allerdings
nicht. Es kann sie nicht geben. Schon deshalb nicht, weil es Präsident
Karzai und seiner Regierung nach der zweifelhaften Wiederwahl Karzais
an der notwendigen Legitimation mangelt. Aber auch, weil keineswegs sicher
ist, dass mehr Sicherheitskräfte mehr Sicherheit schaffen werden.
Mit Stanley McChrystal hat Washington im Sommer jedoch einen ISAF - Befehlshaber
nach Afghanistan entsandt, der erstmals fast alle Truppen im Land aus
einer Hand führen darf. Außerdem hat der US-General eine klare
Vorstellung darüber, wie er vorgehen will: Während der Anhörung
im Kongress vor seiner Berufung stellte er im Juni seine Prioritäten
vor: Erstens gehe es darum, die Bevölkerung vor Druck und Erpressung
durch die Aufständischen zu schützen. Dazu müsse man die
Taliban wo immer möglich aus wichtigen Distrikten vertreiben und
so von der örtlichen Bevölkerung trennen. Zweitens müsse
die Arbeit der afghanischen Regierung auf allen Ebenen verbessert werden.
Nur so könne sie an Legitimität gewinnen. Und drittens gelte
es, die Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte – Polizei
und Militär – zu verbessern. Dazu müsse auch die Kommandostruktur
des internationalen Einsatzes in Afghanistan verändert werden.
Das ist inzwischen geschehen: Ein neuer Stab in Kabul, das ISAF Joint
Command, geleitet von dem amerikanischen General David Rodriguez, führt
künftig alle Operationen der Sicherheitskräfte in allen Regionalkommandos.
Operationen der US-Kräfte, die zur Anti-Terror-Operation Enduring
Freedom OEF gehören und ISAF nicht unterstehen, koordiniert Rodriguez
als Stellvertretender Kommandeur aller US-Streitkräfte in Afghanistan.
Wie McChrystal, der zugleich ISAF-Chef und Befehlshaber der US-Truppen
in Afghanistan ist, trägt auch Rodriguez zwei Hüte: Einen, der
ihm Befehlsgewalt über die ISAF-Truppen gibt und einen, der es ihm
erlaubt, den US–Verbänden der OEF Einsatzbefehle zu erteilen. McChrystal
will auf diesem Weg schrittweise von einer geographisch-regionalen zu
einer funktionalen Führungsstruktur für ganz Afghanistan kommen.
Damit aber wird die Rolle der regionalen Befehlshaber etwa im Norden und
Süden des Landes relativiert. Der ISAF - Befehlshaber in Kabul will
dafür sorgen, dass die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte
landesweit unter einheitlichem Befehl erfolgt. Um dies zu ermöglichen,
entsteht z.B. eine NATO-Trainings-Mission Afghanistan (NTM-A). Dasselbe
gilt für die Führung von Operationen zur Schwächung der
Taliban und zur Sicherung von landesweit 80 Schlüsseldistrikten und
für einen großen Teil der Operationen, die sich gegen den harten
Kern der Taliban und al-Kaidas richten.
Auch für den Norden Afghanistans, in dem die Bundeswehr den Regionalkommandeur
stellt, hat der neue Ansatz Folgen. Das Bundeswehrkontingent wird umgegliedert
und um rund 500 Soldaten vergrößert. Statt 280 Bundeswehrsoldaten
sollen sich künftig 1.400 Soldaten um die Ausbildung der afghanischen
Streitkräfte kümmern und die Afghanen auch im Einsatz begleiten.
Distrikt für Distrikt sollen so die Taliban-Kämpfer aus acht
Schlüsseldistrikten im Norden verdrängt werden. Dazu zählen
u.a. Aliabad, Kalabad, Acih, Chadar Rah, Kundus und Pol-e-Komri. Der Bevölkerung
dort will man dann dauerhaft Schutz vor der Rückkehr der Aufständischen
bieten. Verstärkte Wiederaufbaumaßnahmen sollen dieses Vorgehen
absichern. Letztlich will die Bundeswehr afghanischen Sicherheitskräften
die Zuständigkeit für die örtliche Sicherheit übergeben
und sich hernach um die nächsten Distrikte kümmern. Auch die
Schnelle Eingreiftruppe der Bundeswehr im Norden, die QRF, soll in diese
Umgliederung einbezogen werden. Verteidigungsminister Guttenberg:
O-Ton zu Guttenberg
„Die Quick Reaction Force wird es nicht mehr geben, so wie es sie gab,
sondern die Quick Reaction Force wird in ihrem Auftrag aufgelöst
und gerade da finden die Umstrukturierungen statt. (...) Mit einem gewissen
Aufwuchs werden die Ausbildungs- und Schutzkomponenten herausgebildet.“
Und der neue Generalinspekteur Volker Wieker ergänzt, man wolle
O-Ton Wieker
„die QRF heranziehen, um in Verbindung mit den bereits vorhandenen Sicherungskräften
zwei Ausbildungs- und Schutzbataillone aufzustellen. Ein drittes wird
gestellt (...) durch die Skandinavier im Westen, so dass dann drei Ausbildungs-
und Schutzbataillone zur Verfügung stehen, die mit den drei Brigaden
des 209. ANA-Korps ‚partnern‘ können.“
‚Partnern‘, d.h. Bundeswehreinheiten begleiten die Afghanen bei ihren
Einsätzen. Für die Bundesregierung ist das ein Kurswechsel.
In dem verabschiedeten Strategiepapier heißt es - Zitat:
„Dadurch erfolgt eine Schwerpunktverlagerung von dem gegenwärtig
eher offensiven Vorgehen der QRF zu einer grundsätzlich defensiven
Ausrichtung auf Ausbildung und Schutz“
„Grundsätzlich defensive Ausrichtung“ – das klingt beruhigend, zielt
aber wohl vor allem darauf ab, skeptische Abgeordnete der Regierungsfraktionen
und der Opposition dafür zu gewinnen, den Einsatz in Afghanistan
weiter mitzutragen. Doch mit dieser Argumentation werden Parlament und
Öffentlichkeit teilweise auch in die Irre geführt.
Erstens ist nicht zu erwarten, dass die Taliban widerstandlos abziehen
werden, wenn die afghanischen Bataillone mit ihren deutschen Begleitern
anrücken. Im Gegenteil: Da sie dauerhaft vertrieben werden sollen,
werden sie – wo möglich - versuchen, den Vormarsch der afghanischen
und deutschen Sicherheitskräfte in bisher nicht kontrollierte Distrikte
verlustreich und teuer zu machen. Möglicherweise werden sie aber
auch in andere Regionen ausweichen und dort für Unruhe sorgen. Dadurch
könnten weitere Schlüsseldistrikte entstehen. Der erste Schritt
zur künftig angestrebten, dauerhaften Präsenz in der Fläche
wird deshalb wohl des öfteren mit offensiven Operationen einher gehen.
Dafür könnte ein deutlich größerer Teil des deutschen
Kontingents erforderlich sein als bei den bisherigen, zeitlich begrenzten
Offensiven.
Zweitens argumentiert die Bundesregierung in ihrem Strategiepapier vom
Januar so, als sei die Bundeswehr künftig alleine für die Sicherheit
im Norden Afghanistans zuständig. Das stimmt schon heute nicht und
in Zukunft gilt es noch weniger. In Nordafghanistan sollen künftig
bis zu 5.000 US-Soldaten stationiert werden und die vorhandene, kleine
Task Force ablösen, die bislang die Ausbildung von Grenzpolizisten
überwacht. Etwa so viele wie auch die Bundeswehr dort hat. Ein Teil
dieser Kräfte – die Rede ist von 1.200 bis 2.400 Mann - soll sich
um die Ausbildung sowie um gemeinsame Einsätze mit der afghanischen
Polizei und der Grenzpolizei kümmern und ebenfalls Schlüsseldistrikte
sichern. Vorgesehene Standorte sind in Kunduz, Mazar i Scharif, Maymaneh,
Ghormach, Sheberghan, Pol-e Khomri und Taloqan. Zu den US-Verstärkungen
für den Norden wird auch eine Combat Aviation Brigade mit etwa 30
Transport- und Kampfhubschraubern gehören. Zwölf dieser Hubschrauber
können auch Verwundete ausfliegen, von acht Kampfhubschrauber ist
die Rede. Doch die endgültige Zusammensetzung der US-Truppen im Norden
steht derzeit noch nicht fest. Sie hängt nicht zuletzt davon ab,
wie groß der Bedarf an US-Kräften letztlich sein wird. Das
ISAF-Hauptquartier unter General McChrystal erkundet derzeit noch den
Bedarf. Offiziell angemeldet haben die USA deshalb bislang nur die ersten
2.500 Verstärkungssoldaten. Ob es bei der gegenwärtigen Planung
der Bundeswehr bleibt, die davon ausgeht, dass die Aufgaben der deutschen
QRF nicht von US-Kräften übernommen werden müssen, ist
ungewiss und hängt ebenfalls davon ab, welche Kräfte die Generäle
McChrystal und Rodriguez letztlich für erforderlich halten. Der Gouverneur
von Kundus hat zum Beispiel andere Vorstellungen von der künftigen
Präsenz der US-Streitkräfte als die Bundeswehr. Er wünscht
sich die Anwesenheit einer möglichst großen, hart agierenden
Kampftruppe aus den USA, die neben Aufständischen auch seine örtlichen
Konkurrenten schwächen soll.
Die US-Kräfte sollen dem deutschen Kommandeur des Regionalkommandos
taktisch unterstellt werden. Er erhält das Tactical Command (TACOM).
Eine erweiterte gemeinsame Operationszentrale in Mazar-i-Scharif, in die
zusätzliche US-Offiziere integriert werden, soll sie führen.
Die bedeutsamere operative Befehlsgewalt, die sogenannte Operational Control
(OPCON), liegt allerdings in Kabul bei General Rodriguez und seinem ISAF
Joint Command. Der US-General erteilt dem deutschen Regionalkommandeur
die Einsatzbefehle, die dieser umsetzen oder weiterleiten muss. Da Bundeswehr
und US-Streitkräfte im Norden Afghanistans künftig mit Batallionsstrukturen
arbeiten werden, die über eigene taktische Führungsstrukturen
verfügen, werden die bisherigen Führungsaufgaben des deutschen
Regionalkommandeurs von oben und unten zugleich beschnitten. Er hat künftig
weniger Einfluss auf militärische Operationen und mehr Zeit, sich
um den Wiederaufbau zu kümmern.
US-Kräfte, die zur Operation Enduring Freedom gehören und Spezialkräfte,
die zur Jagd auf wichtige Taliban-Gruppen oder al-Kaida-Kämpfer im
Norden eingesetzt werden, bleiben auch künftig unter nationalem US-Kommando.
Ihre Einsätze werden mit dem Regionalkommando im Norden nur koordiniert,
damit man sich nicht gegenseitig in die Quere kommt. „Friendly fire“ –
der versehentliche Beschuss befreundete Kräfte soll vermieden werden.
Geleistet wird die Koordination durch US-General Rodriguez.
Die größere Präsenz und der wachsende Einfluss der US-Streitkräfte
im Norden Afghanistans kommen nicht von ungefähr. Für Washington
liegen sie im wohlverstandenen Eigeninteresse. Der Nachschub für
den Hauptteil der US-Streitkräfte im Osten und Süden Afghanistans
wird immer häufiger über den bislang relativ ruhigen Norden
herangeführt. Dies wurde im vergangenen Jahr nötig, weil es
immer komplizierter und gefährlicher wurde, Nachschub durch die umkämpften
Unruheprovinzen des afghanisch-pakistanischen Grenzgebietes zu transportieren.
Die Verluste wurden zu groß und ganze Verbindungswege fielen weg.
Da die Transporte nun verstärkt durch den Norden Afghanistans herangeführt
werden, haben auch die Taliban dort ihre Aktivitäten seit einem Jahr
deutlich verstärkt. Die nördliche Versorgungsroute besser abzusichern
ist für die US-Streitkräfte von großer Bedeutung.
Das Bild der ISAF-Truppen im Norden wird also künftig nicht mehr
vorrangig vom Auftreten der Bundeswehr geprägt. Die vorgeblich defensive
Neuausrichtung bedeutet nicht zwangsläufig weniger Gefechte und Kämpfe.
Ebenso großen Einfluss wird das Auftreten der US-Truppen haben.
Ob die verstärkte Einbindung der afghanischen Sicherheitskräfte
in die Operationen auf Distriktebene den gewünschten Effekt eines
„afghanischen Gesichtes“ haben wird, bleibt abzuwarten. Und offen bleibt
auch, ob die neue Afghanistan-Strategie tatsächlich eine glaubhafte
Abzugs-Perspektive eröffnen wird.
Problematisch ist jedoch vor allem eines: Die Bundesregierung drängt
den Bundestag zu einer raschen Entscheidung über das neue Mandat.
Er soll seine Zustimmung geben, bevor klar ist, welche zusätzlichen
Verbände der USA in den Norden Afghanistans verlegt werden und welche
militärischen Möglichkeiten diese Kräfte künftig eröffnen.
Die Entscheidung soll fällen, bevor klar ist, wie robust die NATO
in Nordafghanistan künftig vorgehen wird. Die Bundesregierung gibt
vor, eine Interpretationshoheit über die Umsetzung der neuen Strategie
für Afghanistan zu haben, die sie de facto gar nicht hat. So manchem
Abgeordneten könnte deshalb ein böses Erwachen drohen, wenn
er mit „Ja“ gestimmt hat und sich in den kommenden Monaten mit den Auswirkungen
eines Strategiewechsel konfrontiert sieht, den er in dieser Form nun wirklich
nicht erwartet hatte.
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für
Transatlantische Sicherheit - BITS
|