Streitkräfte und Strategien - NDR info
05. April 2014


Vom Partner zum Gegner
Wie die NATO künftig mit Russland umgehen will

von Otfried Nassauer

Russland hat die Krim annektiert, und daran wird sich wohl auch nichts ändern.  Der Westen hat mit scharfen Worten reagiert. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen auf dem Treffen der NATO-Außenminister in dieser Woche:

O-Ton Rasmussen (Overvoice)
„Russlands Angriff auf die Ukraine ist die schwerste Bedrohung für die Sicherheit Europas seit einer Generation. (...) Die größte Verantwortlichkeit der NATO besteht darin, unser Territorium und unsere Bevölkerungen zu schützen und zu verteidigen. Und täuschen Sie sich nicht: Genau das werden wir tun.“

Die Reaktion kam nicht von ungefähr. Für den NATO-Generalsekretär ist diese Krise ein Geschenk. Russlands Vorgehen auf der Krim soll ihm helfen, die NATO dauerhaft wiederzubeleben. Diese Chance will sich Rasmussen nicht entgehen lassen.

In diesem Jahr endet der Kampfeinsatz in Afghanistan. Danach drohte eigentlich eine Debatte über die Daseinsberechtigung und die Aufgaben der NATO. Wofür braucht man sie eigentlich noch? Mit der Krim-Krise hat Moskau Rasmussen eine gut verkäufliche Begründung geschenkt. Es ist ein altbekanntes Muster: Russland will nicht Partner sein. Es erkläre sich selbst zum Gegner der NATO. Das trifft sich gut mit der Haltung jener NATO-Mitglieder, die Moskau schon lange als Bedrohung betrachten. Also wird die Bündnisverteidigung der Allianz wieder zum zentralen Rational der Allianz. Möglicherweise für lange Zeit. Rasmussen blendet deshalb aus, dass auch die NATO und deren Führungsmacht, die USA, bei militärischen Interventionen bereits in ähnlich große Konflikte mit dem Völkerrecht geraten waren wie Moskau mit der Krim. Beispiele sind u.a. der Irak- und der Kosovo-Krieg. Der NATO-Generalsekretär will die Gelegenheit nutzen und konzentriert sich ganz auf Russland. 

O-Ton Rasmussen (Overvoice)
„Mit seiner Handlungsweise hat Russland ein Vorgehen gewählt, das die Grundlagen unterminiert, auf die unsere Kooperation aufgebaut ist. Das militärische Vorgehen gegen die Ukraine und die illegale Annexion von Teilen des Territoriums der souveränen Ukraine stellen einen flagranten Bruch der internationalen Verpflichtungen Russlands dar. In Anbetracht dessen kann es kein ‚business as usual‘ geben.“ 

Liebhaber klarer Fronten und Feindbilder dürfen wieder hoffen. Im Baltikum, in Polen oder Rumänien wünscht man sich, die NATO werde endlich keine Rücksicht mehr auf russische Befindlichkeiten nehmen und an vorderster Front Präsenz zeigen wird. Manche spekulieren bereits, dass auch die Allianz ihrerseits politisch verbindliche Zusagen an Moskau bricht und eine Stationierung größerer Kampfverbände oder gar atomarer Waffen in Ländern wie Polen erwägt.

Auch aus amerikanischer Sicht bietet der Konflikt Chancen. Man hofft, den Primat der NATO in der Sicherheitspolitik gegenüber der Europäischen Union auf längere Zeit absichern zu können. Umstrittene Projekte wie der Aufbau einer Raketenabwehr in Europa könnten leichter durchsetzbar werden. Die Krim-Krise schwächt in Europa darüber hinaus jene, die für eine strategische wirtschaftliche und politische Kooperation mit Russland eintreten. Der Konflikt schädigt wirtschaftliche Konkurrenten der USA. Schließlich bleiben die innereuropäischen Streitigkeiten erhalten, ob man Sicherheit vor Russland oder mit Russland anstreben soll. Washington kann also weiter darauf zählen, jeweils mit den europäischen Ländern eng zu kooperieren, deren Positionen die Interessen der USA am stärksten widerspiegeln. Die Vereinigten Staaten behalten  die Option, ein gemeinsames Handeln Europas mit ihrer Hilfe zu blockieren. Und Washington  kann hoffen, dass schon bald erneut  die Frage  einer Erweiterung der NATO und der EU auf die Tagesordnung kommt. Erweiterung statt Vertiefung - das garantierte bereits früher wiederholt Washingtons Führungsrolle in Europa. Teile und herrsche.

Schließlich verbinden die USA und Rasmussen noch eine weitere Hoffnung mit einer konfrontativen Situation in Europa: Die Europäer sollen endlich wieder mehr Geld für ihre Streitkräfte ausgeben. US-Außenminister Kerry forderte dies beim NATO-Außenministertreffen in dieser Woche, der NATO-Generalsekretär im vergangenen Monat auf dem sogenannten Brüsseler Forum:

O-Ton Rasmussen (Overvoice)
„Ich denke, das war ein Weckruf und in allen europäischen Hauptstädten sollte jetzt die gesamte Situation überprüft werden. Es ist notwendig, den Trend sinkender Verteidigungsausgaben umzukehren. Wir können einfach nicht mit tiefen Einschnitten bei den Verteidigungshaushalten weitermachen und zugleich glauben, dass wir fähig bleiben, eine effektive kollektive Verteidigung vorzuhalten. Das ist die Realität und wir müssen den Trend umkehren.“ 

US-Firmen hoffen bereits, dass man das in den USA  gescheiterte  Luftvertei-digungs- und Raketenabwehrsystem MEADS nun ausschließlich mit europäi-schen Ländern wiederbeleben kann, weil Länder wie Polen oder die Türkei sich für dieses Projekt begeistern könnten. In Deutschland ist  die Frage aufgeworfen worden,  ob jene 225 Kampfpanzer, mit denen die Bundeswehr für die Zukunft plant, nicht zu wenig seien. Andere riefen gar nach Wiedereinführung der Wehrpflicht.
 
Die meisten dieser und anderer Schnellschüsse sind wirklichkeitsfremd. Fast alle überschüssigen Leopard-Panzer der Bundeswehr sind  bereits exportiert oder verkauft worden. Der Bau neuer Kampfpanzer würde Jahre dauern. Für die Wiedereinführung der Wehrpflicht fehlt nicht nur das Geld. Es macht auch keinen Sinn, jede Krise erneut zum Anlass zu nehmen, um über die Wehrform zu debattieren. An Versuchen, das umstrittene Luftverteidigungssystem MEADS wiederzubeleben, wird es nicht mangeln. Allein:  Das würde viele Milliarden kosten, die im Europa der Finanzkrise niemand aufbringen will.

Die in dieser Woche gefassten Beschlüsse der NATO-Außenminister zeigen jedoch auch, dass den starken Worten keine ebenso starken Taten gefolgt sind. Die NATO hat ihre Militärführung lediglich beauftragt, Vorschläge für eine stärkere Präsenz an den  Außengrenzen des Bündnisses zu erarbeiten. Eine Entscheidung, diese auch umzusetzen, gibt es  noch nicht. Der NATO-Rat hat zwar beschlossen, die zivile und militärische Zusammenarbeit mit Russland einzustellen, er machte aber zugleich Ausnahmen bei Projekten, von denen die NATO profitiert. Man gehe davon aus, dass die gemeinsame Bekämpfung des Drogenhandels, die Lieferung von russischen Hubschraubern an Afghanistan und die Nutzung des russischen Luftraums für den Abzug aus Afghanistan weitergehen.

Auch denkt in der NATO kaum jemand daran, wegen der Krim einen Krieg vom Zaun zu brechen. Die Ukraine will die Krim-Problematik vor den Internationalen Gerichtshof bringen. Sieht Moskau davon ab, sich weitere Teile der Ukraine einzuverleiben, so würden die NATO-Russland-Beziehungen zwar eine ganze Weile frostig bleiben, möglicherweise auch länger als nach dem russischen Einmarsch 2008 in Georgien. Zugleich aber wären Diskussionen im NATO-Russland-Rat weiter möglich. Ein schneller Beitritt der Ukraine zur NATO ist unrealistisch und kann problemlos abgelehnt werden, weil das Bündnis keine Länder aufnimmt, die Territorialdispute mit anderen Staaten haben. Das gilt auch für Georgien. Und Russlands Präsident Putin müsste mit einer solchen Lösung auch leben können. Seine Popularität ist in Russland deutlich gewachsen, seine Macht innenpolitisch abgesichert. Die Verantwortung für die zu erwartende Wirtschaftskrise kann er unter Verweis auf die westlichen Sanktionen zurückweisen. So kann das ein paar Jahre gehen. Eine eigentlich schwache Regierung Putin und eine eigentlich schwache NATO garantieren  so gegenseitig ihre Bedeutung.

Langfristig stellen sich jedoch u.a. folgende wichtige Fragen: Welche Folgen hat der Konflikt für das Verhältnis von NATO und EU? Wird er den weiteren Ausbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und damit die Vertiefung der Europäischen Integration behindern? Das kann sehr gut sein. Eine solche Entwicklung  liegt aber nicht im Interesse der meisten Kontinentaleuropäer. Deshalb wird es an diesen Ländern liegen, mit Russland einen schnelleren Ausweg aus der Konfrontation zu suchen. Das Weimarer Dreieck,  bestehend aus Polen, Frankreich und Deutschland, wäre geeignet, einen solchen Prozess der Deeskalation zu initiieren. Wichtigste Voraussetzung für dessen Erfolg wird es sein, Russland erstmals das deutliche Gefühl zu geben, dass Moskaus Interessen im Westen tatsächlich ernst genommen werden. Bis zu dieser Erkenntnis ist es aber für viele im Westen noch ein weiter Weg.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS