Streitkräfte und Strategien - NDR info
 02. Dezember 2017


30 Jahre INF-Vertrag – Vereinbarung ohne Zukunft?

von Otfried Nassauer


Vor 30 Jahren, am 8.Dezember 1987, unterzeichneten der damalige US-Präsident Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, damals Generalssekretär der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion, den sogenannten INF-Vertrag. Dieser verpflichtete die USA und die UdSSR, alle landgestützten atomaren Mittelstreckenwaffen zu vernichten und in Zukunft auf den Bau und die Stationierung solcher Waffen zu verzichten. Bereits drei Jahre später war dieses Abkommen nicht nur in Kraft, sondern bereits vollständig umgesetzt worden. Rund 2700 atomare Trägersysteme in Europa wurden in der Folge abgerüstet.

Der INF-Vertrag war der erste atomare Abrüstungsvertrag weltweit. Die Zahl atomarer Trägersysteme wurde durch dieses Abkommen nicht nur begrenzt, sondern tatsächlich reduziert. Zwei ganze Kategorien nuklearer Waffen wurden verboten. Landgestützte Atomwaffen mit 500-1.000 Kilometer Reichweite und solche mit 1.000-5.500 Kilometer Reichweite. Teil des Abkommens waren zudem umfassende Überprüfungsregeln, die beiden Vertragsparteien Inspektionen auf dem Territorium der jeweils anderen Seite erlaubten. Auch das war neu. 

Die Verifikationsregeln machen eine weitere Funktion des Abkommens deutlich. Der Vertrag selbst und seine problemlose Umsetzung stellten eine wirksame transparenz- und vertrauensbildende Maßnahme dar. Zusammen mit dem Ende des Kalten Krieges erleichterte der Vertrag das Zustandekommen weiterer Abrüstungsabkommen, die in den Folgejahren geschlossen wurden: Den ersten und zweiten START-Vertrag über die Reduzierung der strategischen Atomwaffen, den Vertrag über das Verbot chemischer Waffen und die Vereinbarungen über Konventionelle Streitkräfte in Europa. US-Präsident Ronald Reagan formulierte diese Hoffnung bereits bei der Unterzeichnung des INF-Vertrages:

O-Ton Reagan:
“Wir können nur hoffen, dass dieses historische Abkommen keinen Schlußpunkt darstellt, sondern den Anfang einer Arbeitsbeziehung, die es uns erlaubt, die anderen dringenden Aufgaben anzugehen, die vor uns liegen: die strategischen Nuklearwaffen die Kräftebalance der konventionellen Streitkräfte in Europa und die tragischen und destruktiven Regionalkonflikte, die so viele Teile unseres Globus plagen.“

Die vertrauensbildende Wirkung des Vertrages zeigte sich auch bei einem weiteren atomaren Abrüstungsschritt. 1990 und 1991 kündigten die USA und die Sowjetunion jeweils an, einseitig und ohne Verhandlungen Tausende von atomaren Kurzstreckenwaffen aus Europa und von ihren Kriegsschiffen abzuziehen. Diese sogenannten Präsidenteninititaiven waren ein Abrüstungschritt, der zahlenmäßig noch deutlich über den INF-Vertrag hinausging. 

Der INF-Vertrag leitete eine Trendwende zur Denuklearisierung der Sicherheitspolitik in Europa und eine Reduzierung der Rolle atomarer Waffen ein. Heute unterhalten die USA nur noch etwa 150 Atomwaffen in Europa, nicht mehr Tausende. 

Allerdings: Dieser Tage steht wohl eine erneute Kehrtwende bevor. Auf die Denuklearisierung der Sicherheit Europas könnte eine Renuklearisierung folgen. Die Bedeutung  nuklearer Waffen wird voraussichtlich wieder zunehmen. Die Zahl solcher Waffen könnte erneut wachsen.

Auch dabei spielt der INF-Vertrag eine wichtige Rolle. Über Jahre lautete die wichtigste Kritik an dem Abkommen, dass es ausschließlich den USA und Russland den Besitz von Mittelstreckenwaffen verbiete. Das diskrimminiere diese beiden Länder im Vergleich zu anderen Staaten, die solche Waffen bauen dürfen wie Indien oder Pakistan. Der Vertrag müsse daher entweder mehr Mitglieder bekommen oder gekündigt werden. Beides geschah nicht.  

In den vergangenen zehn Jahren wurde  jedoch noch ein weiterer Kritikpunkt entwickelt. Washington argumentierte jetzt, Russland habe 2008 erstmals ein landgestütztes Marschflugkörpersystem getestet, das aufgrund seiner Reichweite gegen den INF-Vertrag verstoße. Seit Anfang des Jahres  kommt der Vorwurf hinzu, Moskau habe begonnen, diese Waffe zu stationieren. Washington bezeichnete das System als SSC-8. Man habe Moskau detaillierte Hinweise vorgelegt, um das System zu identifizieren. Für die Öffentlichkeit stellt sich das anders dar: Es ist nicht nachvollziehbar, welches Marschflugkörpersystem genau gemeint sein soll. Denn Washington will nicht konkret werden und keine Einzelheiten mitteilen. Man kann dem US-Vorwurf also nur glauben, ihn aber nicht unabhängig überprüfen oder diskutieren.

Moskau bestreitet eine Vertragsverletzung und dreht den Spieß um, wirft seinerseits Washington vor,  den INF-Vertrag zu verletzen: Russland moniert, dass die USA in Rumänien und Polen für ihr europäisches landgestütztes Raketenabwehrsystem Startgeräte des Typs MK41 an Land stationieren, die auf Schiffen genutzt werden, um  Marschflugkörper vom Typs Tomahawk zu starten. Washington argumentiert, dazu seien die Startgeräte an Land nicht fähig, weil für den Start von Marschflugkörpern weitere Technik erforderlich seien, die nicht stationiert werde. Die USA räumen  aber ein, dass man den Unterschied zwischen beiden Versionen von außen nicht erkennen kann.  

Die Verschärfung dieser Debatte hat natürlich mit der Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Rusland und dem Westen durch die Krisen um Georgien und die Ukraine zu tun. Sie wird auch von dem innenpolitischen Streit in den USA über die Russland-Politik von US-Präsident Trump geprägt. Der Streit um den INF-Vertrag ist heute ein wesentlicher Aspekt der Debatte über die künftige Rolle nuklearer Waffen in Europa und einen drohenden neuen Kalten Krieg. 

Bereits vor sieben Jahren deutete sich diese Entwicklung an. Damals weckte US-Präsident Barak Obama Hoffnungen auf einer Welt ohne Atomwaffen, sagte aber im gleichen Atemzug: 

O-Ton Barak Obama:
„Täuschen Sie sich nicht: So lange es diese Waffen gibt, werden die Vereinigten Staaten ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung potenzieller Feinde aufrechterhalten und die Verteidigung unserer Verbündeten garantieren.“

Kurz darauf veröffentlichten die USA mit dem Nuclear Posture Review 2010 ein Dokument, das eine umfassende Renovierung und Modernisierung des Nuklearwaffenpotenzials der USA vorsah. Man werde alle atomaren Trägersysteme und fünf Atomsprengkopftypen modernisieren, damit die USA bis weit in die 2. Hälfte des 21. Jahrhunderts über ein leistungsfähiges Atomwaffenpotenzial verfügen. Den Anfang sollte die Modernisierung jener Atombomben machen, die in Europa gelagert werden. Wenig später erteilte die NATO Forderungen, die letzten US-Atomwaffen aus Europa abzuziehen, eine Absage. 

Inzwischen geht es um mehr: Anfang 2018 muss Präsident Trump dem Kongress seinen  Nuclear Posture Review vorlegen. In diesem Bericht muss sich Trump auch zur Zukunft der atomaren US-Waffen  in Europa äußern. Wird deren Rolle gestärkt? Kommt es zu einer Renuklearisierung der Sicherheitspolitik in Europa? Auswirkungen auf die NATO sind wahrscheinlich.

Konservative Kreise fordern Trump auf, Moskau nicht nur diplomatisch auf die Einhaltung des INF-Vertrages zu drängen, sondern militärische Gegenmaßnahmen vorzubereiten und  einzuleiten. Der aktuelle Entwurf des Haushaltsgesetzes für das Pentagon sieht zum Beispiel einen zweistelligen Millionenbetrag vor, mit dem die Entwicklung eines landgestützten Marschflugkörpersystems großer Reichweite angestoßen werden kann, das später in Europa stationiert werden könnte.

Hans Kristensen, ein führender Analytiker der Nuklearpolitik in Washington, glaubt nicht, dass das Militär ein solches Vorgehen befürworten würde, macht aber darauf aufmerksam, dass sich das Weiße Haus widersprüchlich geäußert hat:

O-Ton Kristensen:
„Das Weiße Haus hat kürzlich ein Statement zum neuen Verteidigungshaushaltsgesetz veröffentlicht, das besagt, man wolle nicht auf ein spezifisches Waffensystem festgelegt werden, aber man sei dafür – also eine Art Widerspruch in sich.“ 

Sigmar Gabriel, der deutsche Außenminister reagierte kürzlich alarmiert . In der Bild am Sonntag sagte er Anfang November - Zitat: „Neue atomare Mittelstreckenraketen mitten in Europa – das ist leider mehr als wahrscheinlich“. Und dann fügte er noch hinzu: Europa sei gerade –so wörtlich – mit „der Zerstörung all der Erfolge bei Rüstungskontrolle und Abrüstung konfrontiert, die in den 80er und 90er Jahren erreicht wurden.“ 

Das genau ist die drohende Entwicklung, die den 30. Geburtstag des INF-Vertrags überschattet: Es droht nicht nur eine Renuklearisierung der Sicherheitspolitik in Europa. Auch mit einer Aufgabe der Rüstungskontrolle als wesentlicher Teil der Sicherheitspolitik der NATO ist zu rechnen.  


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS