Nukleare Teilhabe – Überholtes Konzept ohne Funktion?
von Otfried Nassauer
Die Vereinigten Staaten modernisieren ihre atomaren
Sprengköpfe. Die sollen sicherer, moderner und militärisch
flexibler einsetzbar werden, es soll allerdings nicht unbedingt mehr
Gefechtsköpfe geben. Seit dem Amtsantritt von US-Präsident
Trump wird dafür regelmäßig mehr Geld bereitgestellt.
Für 2021 ist erneut eine Steigerung der Ausgaben um 25 Prozent auf
dann 15,6 Milliarden Dollar dafür geplant. Die modernisierten
Sprengköpfe haben meist eine reduzierte Sprengkraft und eine
erheblich größere Zielgenauigkeit. Das eine ermöglicht
das andere. Die modernisierten Waffen enthalten viele neue
nicht-nukleare Bauteile, z.B. Sensoren, Zündmechanismen,
Kommunikations-elektronik oder computerisierte Steuerungen. Sie
können flexibler und gezielter eingesetzt werden und verursachen
weniger sogenannte Kollateralschäden. Die Waffen sind einfach
besser nutzbar.
Kritiker gehen davon aus, dass deshalb die Schwelle für
den Einsatz atomarer Waffen sinkt, dieser also wahrscheinlicher und
damit die nukleare Abschreckung instabiler wird. Befürworter
behaupten dagegen, die nukleare Abschreckung werde durch Waffen, mit
denen man glaubwürdig Krieg führen könne, einfach
stabiler. Kriegführungsabschreckung sei wirksamer als eine
Abschreckung, die nur auf Kriegsverhinderung zielt. Vor allem dann,
wenn es mit den modernisierten Atomwaffen ggf. auch die
Möglichkeit gebe, begrenzte Nuklearoperationen auf regionalen
Kriegsschauplätzen wie in Europa oder auf der koreanischen
Halbinsel zu planen, die nicht zwangsnotwendig in einen globalen
Atomkrieg münden.
Unter Donald Trump haben Befürworter der
Kriegführungsabschreckung wieder Oberwasser bekommen.
Kürzlich konnten sie ihren ersten großen Erfolg feiern. Als
das Atom-U-Boot „USS Tennessee“ Ende 2019 zu einer weiteren
Patrouillenfahrt auslief, stellte das eine Zäsur dar. Das
Raketen-U-Boot der Ohio-Klasse trug neben seiner normalen Bewaffnung
aus Trident-Langstreckenraketen mit Mehrfachsprengköpfen
großer Sprengkraft auch ein oder zwei Trident-Raketen mit nur
einem neuen Gefechtskopf kleiner Sprengkraft. Dieser W76-2 Sprengkopf
wird nur in kleiner Stückzahl gebaut und auf wenigen der 14
U-Boote der Ohio-Klasse eingesetzt. Der Grund dafür ist seine
Funktion. Der Sprengkopf soll den USA eine neue Option für den
Ersteinsatz nuklearer Waffen eröffnen. Ziel ist die
Möglichkeit zu einer begrenzten nuklearen Eskalation, die nicht
zwingend zu einem globalen Atomkrieg führt. So wurde die Waffe
auch öffentlich begründet. Ulrich Kühn, Wissenschaftler
am Hamburger Institut für Friedensforschung und
Sicherheitspolitik, beschreibt das damit verbundene Risiko so:
O-Ton Kühn
„Die konkrete Folge der Stationierung von kleineren
Atomsprengköpfen auf US-Atom-U-Booten ist ja letztlich die, dass
man hiermit zeigt, dass aus Sicht der Planer im Pentagon ein begrenzter
Nuklearkrieg beziehungsweise begrenzte Nuklearschläge auch in
Europa möglich sind. Und das ist ein Szenario, das eigentlich die
Europäer sehr stark wachrütteln sollte. Kann man
überhaupt mitreden, wenn die Amerikaner hier solche
Nuklearsprengköpfe einsetzen wollen?“
In der Tat: Für die NATO und deren System der nuklearen
Teilhabe und Konsultationen hat diese Entwicklung wahrscheinlich
erhebliche Konsequenzen. Denn die Ausgangslage für
europäische Wünsche nach Mitspracherechten beim Einsatz
atomarer Waffen in Europa verändert sich grundlegend.
Während des Kalten Krieges und im Grundsatz sogar noch
bis in das vergangene Jahr hinein, ließen sich europäische
Mitsprachewünsche immer mit mindestens einem der folgenden
Argumente begründen:
- Der Einsatz atomarer Waffen erfolgt vom Territorium europäischer Staaten.
- Die Waffen kommen aus Depots in Europa.
- Viele nuklearfähige Trägersysteme gehören europäischen Staaten und werden von Soldaten aus Europa betrieben.
Und schließlich liegen viele Ziele nuklearer Waffen auf dem Territorium europäischer Länder.
Künftig ist das anders: die USA können aus internationalen
Gewässern von einem US-U-Boot eine US-Rakete mit einem einzigen
US-Sprengkopf für einen begrenzten atomaren Ersteinsatz nutzen.
Und sie können dabei auch auswählen, ob das Ziel dieses
Einsatzes auf dem Territorium Russlands oder eines anderen Landes liegt.
Seit die USA ihren U-Boot-Stützpunkt Holy Loch in
Schottland geschlossen haben, werden der NATO auch keine strategischen
US-U-Boote mehr unterstellt. Damit ist auch der Anspruch oder der
Wunsch der europäischen NATO-Mitglieder nach Konsultation vor
einem Nukleareinsatz nicht mehr begründbar. Washington braucht
jetzt kein europäisches Mittun mehr, wenn es die Schwelle zu einem
auf den europäischen Kriegsschauplatz begrenzten
Nuklearwaffeneinsatz überschreiten will. Das ist die Zäsur.
Als die NATO in den späten 1960er Jahren begann,
detaillierte Konsultationsmechanismen für den Nuklearwaffeneinsatz
einzuführen, entstanden gleich zwei Dokumente. Das eine enthielt
generelle Richtlinien für Konsultationen über den Einsatz
atomarer Waffen durch das Bündnis. Das andere Dokument zielte auf
eine wichtige Einzelfrage, nämlich Beratungen über den
erstmaligen Einsatz nuklearer Waffen durch die NATO - also für das
Überschreiten der nuklearen Schwelle. Dieses Papier stellte die
Frage nach dem Primat der Politik, stellte also die politische
Kontrolle über militärische Planungen.
Zweifellos war das aus europäischer Sicht die wichtigere
Frage, bei der man gerne mitreden oder besser noch mitentscheiden
wollte. Wann und in welcher Form soll ein erster Einsatz nuklearer
Waffen erfolgen? Die Diskussion über allgemeine Vorgaben für
nukleare Einsätze der NATO war dagegen zunächst weniger
strittig und wichtig. Sie gewann erst an Bedeutung, als der damalige
US-Verteidigungsminister Schlesinger 1975 ein Konzept begrenzter
Nuklearwaffeneinsätze gegen militärische Ziele in die
Diskussion einbrachte. Harold Brown, sein Nachfolger, bezeichnete es
später als Kriegführungsabschreckung. In Europa war die Folge
eine vehemente Debatte darüber, ob die USA sich Möglichkeiten
zur Abkopplung von nuklearen Krisen in Europa schaffen wollten. Denn es
gab Zweifel, ob die USA bei Nuklearschlägen beispielsweise gegen
Hamburg oder London mit strategischen Waffen reagieren würden,
weil sie damit die Vernichtung New Yorks riskierten.
Nach dem Fall der Mauer wurden die Nuklearwaffenpotenziale in
Europa kräftig reduziert. Da sich die NATO eine neue Strategie
gab, in der Nuklearwaffen eine primär politische Rolle zugewiesen
wurde, verlor auch die Debatte über die nuklearen
Konsultationsmechanismen des Bündnisses an Brisanz. Es gab hierzu
zwar weiterhin aktualisierte Richtlinien, aber es bestand kein Anlass
mehr, über die Form des Primats der Politik über
militärisch-operative Planungen weiter intensiv zu streiten.
An der technisch nuklearen Teilhabe wurde jedoch weiter
festgehalten - also der Lagerung und Bereithaltung von Atombomben der
USA für den Einsatz durch europäische Trägerflugzeuge.
Das heißt aber auch, dass ggf. auf beiden Seiten des Atlantiks
eine Entscheidung fallen musste, bevor Nuklearwaffen in Europa
eingesetzt werden konnten. Auch Washington schien letztlich Gefallen
daran gefunden zu haben, im Falle eines Falles nicht als
Alleinverantwortlicher für den ersten Atomwaffeneinsatz nach
Nagasaki dazustehen.
Manche Experten waren bereit, die nukleare Teilhabe in Frage
zu stellen. So zum Beispiel Harald Müller von der Hessischen
Stiftung Friedens- und Konfliktforschung:
O-Ton Müller
„Wir haben einen neuen Kalten Krieg unter veränderten
Umständen. Und da ist es schon zu hinterfragen, ob man nicht eine
tiefe Debatte innerhalb des Bündnisses auslösen sollte, die
das auch infrage stellt und vielleicht auch verändert.“
Das deutsche Interesse am Fortbestand der nuklearen Teilhabe
formulierte Karl Heinz Kamp, früher Präsident der
Bundessicherheitsakademie 2017, so:
O-Ton Kamp
„In der NATO haben wir einen Deal, den wir Teilhabe nennen, d.h.
da sind zum einen amerikanische Atomwaffen in Europa stationiert,
erstens. Zweitens es gibt eine Information und Konsultation der USA mit
ihren nicht-nuklearen Alliierten und es gibt gemeinsame Übungen.
Und an diesem System, diesem Dreierschritt, würde ich gerne
festhalten wollen.“
So sieht es auch die Bundesregierung. Sie will die Beteiligung
an der nuklearen Teilhabe fortsetzen. Das Verteidigungsministerium
drängt auf die Beschaffung von 30 Flugzeugen des Typs F-18F, um
den Tornado abzulösen. Dieser Flugzeugtyp muss noch für den
Einsatz mit nuklearen Bomben zertifiziert werden. Unklar ist, ob die
F-18F, anders als der Tornado, alle neuen operativen Möglichkeiten
der modernisierten Atombombe B61-12 nutzen könnte - zum Beispiel
deren deutlich verbesserte Zielgenauigkeit und die Fähigkeit zum
Einsatz gegen verbunkerte Ziele. Die Stationierung dieser Bombe soll in
wenigen Jahren beginnen. Die Beschaffung aber ist mit Kosten von
mehreren Milliarden Euro verbunden. Der Betrieb wird weitere Milliarden
benötigen.
Das Vorhaben wirft zudem eine bislang nicht gestellte Frage
auf: Ist es sinnvoll, künftig Milliarden für neue Flugzeuge
auszugeben, wenn die nukleare Teilhabe keine Rückversicherung mehr
darstellt, dass die USA einen auf Europa begrenzten Ersteinsatz
nuklearer Waffen auch gegen den Willen der Europäer mit nationalen
Mitteln durchführen? Vielleicht liegt hier die Ursache dafür,
dass der amerikanische NATO-Oberbefehlshaber Wolters sich vor dem
Kongress kürzlich als Anhänger eines flexiblen Ersteinsatzes
bezeichnete.
Die mit der nuklearen Teilhabe verbundene Erwartung der
Europäer, man könne ggf. Einfluss nehmen auf einen
Ersteinsatz von US-Atomwaffen, dürfte durch die Modernisierung des
Nukleararsenals hinfällig werden. Damit wird der geplante Kauf von
nuklearfähigen US-Kampfflugzeugen aber zum Selbstbetrug. Er
erfüllt seinen eigentlichen Sinn nicht mehr.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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