Streitkräfte und Strategien - NDR info
04. Oktober 2003


Die NATO-Response Force - Präventives Instrument der USA mit europäischer Beteiligung?

Otfried Nassauer

Das Tempo ist rekordverdächtig. Erst ein Jahr ist vergangen, seit die Idee für eine solche Truppe erstmals durch den amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vorgestellt wurde. Weniger als ein Jahr, seit der Prager NATO-Gipfels im November 2002 beschloss, die Truppe aufzustellen und mittels besonderer Fähigkeitsverpflichtungen zu einem modernen, schnellen Eingreifverband zu machen.

Seither hat der Militärausschuß der NATO ein Konzept für die Truppe erarbeitet. Es wurde im Frühjahr gebilligt. Am 16.Juli trafen sich die NATO-Staaten zu einer Truppensteller-Konferenz. Die ersten Einheiten des Verbandes sollen schon zur Vorstellungsfeier am 15. Oktober bereitstehen. Aufgabe der zunächst aus Luft- und Seestreitkräften bestehenden Interventionstruppe ist es, die für den Einsatz notwendigen Strukturen, Konzepte und Verfahren zu erproben. Die Allianz demonstriert so ihre Bereitschaft und Fähigkeit, zu handeln. Die NATO macht ernst mit der Transformation, dem Umbau von Bündnisstrukturen, Streitkräften und Fähigkeiten. Bemerkenswert: Nicht nur die neuen NATO-Mitglieder machen mit, sondern selbst das einst aus der militärischen Integration des Bündnisses ausgeschiedene Frankreich.

Aufgabe der Truppe soll es sein, die NATO zu befähigen, sich weltweit an schnell und kurzfristig geplanten Interventionen jedweder Art zu beteiligen. Die Allianz soll mit begrenzten, dem Leistungsspektrum der US-Streitkräfte ebenbürtigen Kräften an Einsätzen teilnehmen können – zum Beispiel zur Bekämpfung des Terrorismus und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Die Response-Force ist das erste multinationale Instrument, mit dem die Europäer in der NATO ähnliche Handlungsmöglichkeiten wie die USA bekommen sollen. Der Bedarf dafür entstand, nachdem die NATO im vergangenen Jahr ihr Aufgabenfeld und ihre geografische Zuständigkeit erweitert hatte.

Im Kern geht darum, dass Europa sich weltweit an amerikanischen Interventionen beteiligen kann – sei es, weil dies auch im europäischen Interesse liegt oder sei es, weil Washington es als Ausdruck europäischer Solidarität und Lastenteilung einfordert. Handelt Washington nicht im Alleingang, so lassen sich solche Interventionen politisch besser rechtfertigen und im Zweifelsfall fällt auch die Kritik an Verletzungen des Völkerrechtes schwächer aus. Ein Teil der potentiellen Kritiker ist ja eingebunden, macht mit, muss das Vorgehen verteidigen und hilft damit mit, die Verhaltensregeln der internationalen Gemeinschaft auf dem Wege praktischer Präzedenzfälle zu verändern. Mitgehangen, mitgefangen – gerade auch bei heiklen Fragen wie dem präventiven Einsatz militärischer Gewalt. Wie ausgeprägt das Interesse Washingtons an einer solchen Funktionalität ist – gerade nach den Problemen mit dem Irakkrieg - , zeigte jüngst Donald Rumsfelds Vorschlag, das informelle Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Colorado Springs zum Durchspielen eines solchen Krisenszenarios auf Ministerebene zu nutzen.

Die europäischen Motive, sich an dem Vorhaben zu beteiligen, sind breit gefächert. Die neuen Mitglieder haben die Hoffnung, mit vergleichsweise geringem Aufwand einen für Washington unübersehbaren eigenen Beitrag zu den Fähigkeiten der Allianz zu leisten. Manch altes NATO-Mitglied hofft, durch Mitmachen auch wieder häufiger mitentscheiden zu können, wie mit Krisen umgegangen werden soll. Auch werde Washington wieder stärker multilateral eingebunden, weil ein NATO-Beschluss nötig sei, wenn die Truppe zum Einsatz kommen soll. Zudem werde die Allianz und damit ihre Bedeutung für die USA gestärkt. Manch einer beteiligt sich wohl auch an diesem Vorhaben, weil man Washington – angesichts der transatlantischen Spannungen der jüngsten Vergangenheit – nicht jeden Wunsch abschlagen möchte. Oder weil man hofft, so der Kritik zuvorzukommen, Europa tue zu wenig für die Verteidigung.

Doch die Probleme, die mit der NATO-Response Force verbunden sind, sind schwerwiegender. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen: Der Aufbau der NRF steht in einer latenten, wenn nicht gar offenen Konkurrenz zu dem Bemühen der europäischen Staaten, im Rahmen der Europäischen Union eigene Fähigkeiten des militärischen Krisenmanagements aufzubauen. Kapazitäten, die sowohl im Verbund mit der NATO eingesetzt werden können, als auch autonom. Konkurriert wird um knappe finanzielle und militärische Ressourcen, aber auch um Entscheidungsbefugnisse und politisch-militärische Handlungsspielräume.

Die neue NATO-Truppe benötigt substantielle Ressourcen. Um 21.000 Soldaten in einem sechsmonatigen Bereitschafts- und Einsatzzyklus zu halten, sind mindestens drei Kontingente dieser Größe nötig – also zusammen rund 60.000 Soldaten. Zwei dieser Kontingente stehen nicht für andere Aufgaben zur Verfügung. Eines, weil es für sechs Monate im Einsatz oder in Bereitschaft steht. Das andere, weil es sich darauf vorbereitet. Viele europäischen Staaten planen ihren Beitrag zur NATO-Response Force aus dem gleichen Kräftebestand, den sie für die europäischen Krisenmanagementkräfte vorgesehen haben. Das hat aber zur Folge, dass Kräfte, die für die NATO in Einsatz oder Bereitschaft stehen, nicht zugleich der EU zur Verfügung stehen werden. Umgekehrt können Kräfte, die an einem EU-Einsatz teilnehmen, nicht zugleich als Beitrag für die NRF eingeplant werden. Zwar könnte theoretisch die NATO-Truppe auch für einen EU-geführten Einsatz abgestellt werden. Voraussetzung dafür ist aber ein NATO-Beschluss. Ein solcher Einsatz könnte also nicht in europäischer Autonomie erfolgen. Er bedarf der Zustimmung Dritter. Die Bedeutung dieser Problematik wird klar, wenn man sich folgendes vor Augen hält: Der NATO-Eingreifverband wird ganz oder fast vollständig aus europäischen Verbänden bestehen. Vom Umfang her macht er etwa ein Drittel der europäischen Krisenmanagementkräfte aus - und es wird sich dabei um das reaktions- und kampfkräftigste Drittel handeln. Ein gutes Beispiel ist die deutsch-französische Brigade: Sie ist zugleich als reaktionsschnellster Verband für die EU-Kräfte vorgesehen und zugleich als eines der Heereskontingente für die NATO-Eingreiftruppe.

Um diese potentielle Konkurrenz abzumildern, haben sich die Beteiligten etwas einfallen lassen. Die Länder, die Truppen für den NATO-Verband stellen, können ihre Zusage unter besonderen Umständen zurücknehmen, z.B. wenn die Einheiten für nationale Zwecke oder einen EU-Einsatz benötigt werden. Das steht nach des Verteidigungsministeriums Im Gesamtkonzept der NATO für ihre neue Truppe. Doch damit werden eher neue Fragen aufgeworfen als alte gelöst: Bedeutet das, daß die NATO-Eingreiftruppe nur dann vollzählig einsatzbereit ist, wenn kein Staat von dieser Möglichkeit Gebrauch macht? Was genau sind "besondere Umstände" und was nicht? Kann es passieren, daß NATO und EU künftig darum konkurrieren, wer zuerst seinen Bedarf an den nationalen Beiträgen anmeldet, weil nur zuerst mahlt wer zuerst kommt? Könnte sich deshalb die Neigung beider Institutionen verstärken, frühzeitig militärische Lösungen von Krisen ins Auge zu fassen?

Problematisch dürfte auch ein anderer Aspekt werden – die Interoperabilität. Die Kontingente der NATO Response Force sollen so ausgestattet werden, dass sie in vollem Umfang bei Operationen aller Art mit US-Truppen zusammenwirken können. Die transatlantische technologische Lücke soll bei diesen Einheiten schrittweise geschlossen werden. Dies kann angesichts der knappen Zeitvorgaben nur gelingen, wenn die europäischen Einheiten weitgehend nach amerikanischem Vorbild und auf amerikanische Operationskonzepte hin modernisiert werden. Das aber hat wahrscheinlich zur Folge, dass diese oft beschworene Lücke künftig nicht mehr zwischen den USA und Europa, sondern vor allem innerhalb der europäischen Krisenmanagementkräfte und sogar der nationalen Streitkräfte klaffen wird. Vermeiden ließe sich eine solche Entwicklung nur, wenn auch der Rest der europäischen Streitkräfte nach amerikanischem Vorbild modernisiert würde. Das aber würde nicht nur sehr teuer. Es wäre auch nur möglich, wenn wieder ein erheblich größerer Teil der Streitkräfteausstattung Europas in den USA eingekauft würde.

Die Folge: Mit der NATO-Response Force deutet sich die Gefahr an, dass europäische Politiker ihren Steuerzahlern bald erklären müssen, warum sie künftig 60.000 der leistungsfähigsten Soldaten Europas mit modernster und oft in den USA gekaufter Ausstattung zwar bezahlen dürfen, diese Soldaten aber für europäische Einsätze oft nicht bereitstehen.

 

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).