07. September 2002
Streitkräfte und Strategien, NDR info

 

Ist nichts mehr wie es einmal war?
Mär vom dramatischen US-Kurswechsel nach dem 11. September.

 von Otfried Nassauer  

In der Sicherheitspolitik – so ist hierzulande oft zu hören – sei seit den Anschlägen des 11.Septembers alles anders geworden. Seither habe sich die Außen- und Militärpolitik Washingtons mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt, Europa könne der Entwicklung kaum folgen. Die Gefahr einer Kontinentalplattenverschiebung wachse. Der transatlantische Graben werde breiter und tiefer. Es ist also Zeit für eine Zwischenbilanz, eine Überprüfung solcher Aussagen – ein Jahr danach. Was hat sich verändert und wurden die Veränderungen durch den 11. September ausgelöst?

Offensichtlich sehr zufrieden ist Donald Rumsfeld, der amerikanische Verteidigungsminister, mit sich und seiner geleisteten Arbeit der letzten anderthalb Jahre. Zu dem bisher Erreichten zählt er

  • eine neue Verteidigungsstrategie,
  • die Abkehr von der "Theorie zweier größerer Regionalkriege", ein neues Konzept für die Raketenabwehr ohne die Bindungen des ABM-Vertrages,
  • eine Reorganisation der Fähigkeiten zur Weltraumkriegführung, die Entwicklung einer neuen Kommandostruktur, die die Heimatverteidigung verbessere und den Umbau der Streitkräfte beschleunige,
  • ein neues Konzept der strategischen Abschreckung und schließlich eine neue Art und Weise, Sicherheitsrisiken abzuwägen.

Mit kaum verkennbarem Stolz fügte Rumsfeld wörtlich hinzu: "Diese Ergebnisse wurden erzielt, während wir einen Krieg gegen den Terrorismus führen – kein schlechter Beginn für ein Ministerium, das den Ruf hat, sich gegen Veränderungen zu wehren." So das Vorwort zu seinem jüngst veröffentlichten ersten Bericht an den Kongreß.

Rumsfelds Erfolge bereiten in Europa Kopfschmerzen. Die Abkehr der Bush-Administration von der Rüstungskontrolle – beispielsweise die Kündigung des ABM-Vertrages – wurde als erstes Alarmzeichen gewertet. Die Politik zur Verhinderung eines Internationalen Strafgerichtshofes für Kriegsverbrecher wurde als Anzeichen amerikanischen Unilateralismus betrachtet. Die neue Abschreckungsdoktrin und die Pläne für die Raketenabwehr weckten Befürchtungen um die Stabilität sowie – hinter vorgehaltener Hand - um die künftige Rolle Europas in diesem Konzept. Befürchtungen wurden auch wach, als die neue Kommandostruktur der US-Streitkräfte deutlich machte, dass Washington seine nationale Verteidigung von der NATO unabhängig machen würde. Washingtons Intervention gegen den Terrorismus in Afghanistan wurde aus Gründen der politischen Solidarität mitgetragen, obwohl es viele Bedenken gab. Ernsthaft erschrocken aber reagierte Europa, als Washington begann, offensive Militärschläge zu erwägen, die einem potentiellen Angriff durch einen anderen – staatlichen oder nichtstaatlichen - Akteur zuvorkommen sollen und dabei selbst Nuklearwaffeneinsätze nicht ausschloß. Aufregung herrschte in den Hauptstädten, als immer deutlicher wurde, dass der Krieg gegen den Terrorismus im Krieg gegen den Irak, einen Staat der an Massenvernichtungswaffen arbeitet, seine Ergänzung finden würde und sich abzeichnete, dass die USA eine machtpolitische Neuordnung großer Teile Asiens anstreben – Regierungswechsel vielerorts mit eingeschlossen.

Kaum einer dieser Schritte aber konnte wirklich überraschen. Denn fast alle Vorhaben lagen bereits vor dem 11.September, zumeist sogar vor der Wahl Bushs, auf dem Tisch. Das Konzept einer neuen Abschreckung, die Raketenabwehr und offensive nukleare wie konventionelle Fähigkeiten integriert, wurde im Januar 2001 vom National Institute for Public Policy vorgelegt. Es beinhaltete die Möglichkeit präemptiver und präventiver Angriffe. Die verstärkten Bemühungen um die Raketenabwehr waren Thema etlicher Papiere. Pläne für eine verstärkte Betonung der Verteidigung Amerikas gegen Bedrohungen aller Art, einschließlich des Terrorismus, waren schon zur Wahl unter dem Stichwort Heimatverteidigung, Home Land Defense, in Denkfabriken weit gediehen. Die radikale Reform der Streitkräfte, ihre Ausrichtung auf künftige Konflikte in Asien und viele Vorschläge zur Vorbereitung auf diese fanden sich z.B. in fertigen Studien des Pentagons, insbesondere in Arbeiten, an denen das Office of Net Assessment beteiligt war. Die deutliche Abkehr von der bilateralen und multilateralen Rüstungskontrolle war bereits vor der Wahl Gemeingut in der republikanischen Politik, ebenso die Abkehr vom Multilateralismus. Der neue Umgang mit der schwächelnden Großmacht Russland war in einer Studie des Nixon-Centers ausgearbeitet worden. Selbst die erst jüngst in Europa Beachtung findende Debatte über Amerika als Imperium und eine offen imperialistische Politik war vorgedacht – eine hochrangige Expertengruppe des "Projektes für das Neue Amerikanische Jahrhundert" hatte sie vorformuliert. Und schließlich: dass die Bush-Administration Saddam Hussein von der Macht entfernen wollte, war auch bekannt. Es stand in dem Gesetz über die Befreiung des Iraks, das der republikanisch beherrschte Kongress 1998 verabschiedet hatte.

Es war damit zu rechnen, dass die Bush-Administration eine stark an nationalen Interessen und der eigenen Handlungsfreiheit orientierte Außen- und Sicherheitspolitik betreiben würde. Entsprechend hatten sich etliche Mitglieder der neuen Regierung zuvor in einer Studie geäußert. Es war vorhersehbar, dass diese Politik zu einer Deregulierung der internationalen Beziehungen, also dem Ausstieg aus internationalen Verträgen und Verpflichtungen, führen würde. Einer Politik zur Stärkung des Rechts würde eine Strategie entgegengesetzt, die das Recht des Stärkeren noch weiter stärkt.

Das Ergebnis dieser kleinen Zwischenbilanz: Die Vielzahl strategischer und bedeutsamer Veränderungen in der Sicherheitspolitik Washingtons geht in den allermeisten Fällen nicht auf den 11. September zurück. Vielmehr ermöglichte es der 11. September den Sicherheitspolitikern der Bush-Administration, zusätzliche Begründungsmuster für ihre Vorhaben zu entwickeln und bereits geplante Reformen und Umstrukturierungen zu beschleunigen und ohne substantielle Widerstände durchzusetzen. Zudem bot er einen Anlaß, erheblich mehr Geld für Aufgaben der äußeren und inneren Sicherheit bereitzustellen.

Wie aber konnte es dann hierzulande zu der Wahrnehmung kommen, der 11. September habe zu quasi-revolutionären Veränderungen in der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik geführt? Weder das Berliner Außen- noch das Verteidigungsministerium waren im Januar 2001 hinreichend auf eine von George W. Bush geführte Regierung vorbereitet. Es gab keine Politikplanung und -vorbereitung im Sinne einer umfassenden Analyse republikanischer Politikvorhaben. Dabei waren sie frühzeitig nachzulesen in Studien hochrangig besetzter Expertengruppen und Denkfabriken. Soweit bekannt gab es keine detaillierten Studien, wer in der neuen Administration möglicherweise welche Ämter einnehmen werde und für welche Vorhaben und Positionen die einzelnen Personen stehen würden. Durchdachte Politikalternativen für die Bundesregierung fehlten ebenfalls. Abwarten und Teetrinken hieß die Devise, die Ministerialbeamte und Offiziere der Politik empfohlen hatten - und nur keine vorschnelle Aufregung. Nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird – das war auch die Reaktion auf die ersten deutlicheren Worte der neuen US-Regierung. Bald folgte ungläubiges Staunen über die Geschwindigkeit, mit der die Bush-Administration das Steuer herumriss, multilaterale Bindungen aufkündigte und eine am nationalen Interesse orientierte Machtpolitik durchsetzte. Und doch: Noch Wochen nach dem 11. September hofften hohe deutsche Beamte, nun werde die Regierung Bush ihre Neigung zum Unilateralismus aufgeben und zurückkehren auf den Pfad der Tugend - eine international abgestimmte, multilaterale Politik.

Mancher in den Amtsstuben rechnete noch immer nicht damit, dass Washington seiner eigenen Agenda und seinen eigenen Interessen folgen werde, unabhängig davon, was die europäischen Partner dazu sagen würden. Solche Fehleinschätzungen und Fehler in der Wahrnehmung deutscher Politik lassen sich heute leichter verdecken, wenn man die Terroranschläge zum Auslöser der Veränderungen in der Politik Washingtons erklärt. Dabei hatten sie aus US-Sicht vor allem eine andere, instrumentelle Funktion – sie waren eine günstige Gelegenheit, Solidarität statt solidarischer Kritik zu fordern.

Dass nicht der 11. September und der Krieg gegen den Terrorismus im Zentrum der Washingtoner Politik steht, wird auch an kleinen, symbolischen Akten deutlich: Als jüngst die Philippinen beabsichtigten, dem Internationalen Strafgerichtshof beizutreten, drohte Washington mit einer radikalen Kürzung der Finanzhilfen zur Bekämpfung des Terrorismus. Eine klare Aussage über Prioritäten.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).