Streitkräfte und Strategien - NDR info
12. Juli 2003


Debakel programmiert? Die überstürzte Kongo-Intervention der EU

Christopher Steinmetz


Ausgestattet mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrats versucht derzeit die schnelle Eingreiftruppe der Europäischen Union bis zum 1. September die Situation in der ostkongolesischen Stadt Bunia zu stabilisieren. Denn seit Anfang des Jahres hatte sich die Sicherheitslage im gesamten Bezirk Ituri verschlechtert, die Kämpfe zwischen den verschiedenen Milizen hatten an Intensität zugenommen. Mit dem Abzug der letzen ugandischen Besatzer aus Bunia im Mai – im Rahmen des kongolesischen Friedensprozesses – erreichte der Konflikt einen vorläufigen Höhepunkt. Die in Bunia stationierten Einheiten der UN-Beobachtungsmission MONUC waren nicht in der Lage, die Kämpfe der Milizen in der Stadt zu unterbinden. MONUC steht für "Mission der Vereinten Nationen in der demokratischen Republik Kongo.

Tatsächlich konnte die am 12. Juni angelaufene "Operation Artemis" der EU bislang alle Erwartungen erfüllen. Die Situation in Bunia hat sich verbessert, die Milizen haben sich größtenteils in die umliegenden Dörfer zurückgezogen und die ersten Flüchtlinge kehren zurück in die Stadt.

Auf den ersten Blick hat die EU bei dem ersten Militäreinsatz ohne Hilfe der NATO erfolgreich ihre Milchzähne gefletscht. Es ist der EU in Rekordzeit gelungen, die notwendigen Maßnahmen zu beschließen und umzusetzen. Zwischen der Resolution des UN-Sicherheitsrats und der Entsendung von Truppen vergingen nicht einmal zwei Wochen. Und ohne viel Diskussion haben die einzelnen EU-Staaten schnell die notwendigen parlamentarischen Voraussetzungen für den Einsatz geschaffen.

Auf den zweiten Blick entsteht jedoch ein anderes Bild. Um den prestigeträchtigen UN-Auftrag zu übernehmen hat die Mehrheit der beteiligten europäischen Regierungen anfangs auf jede politische und militärische Risikoanalyse verzichtet. Nach der politischen Krisenreaktion brummte dann so manchem der Schädel. Denn es lag auf der Hand, dass die zeitlich und räumlich begrenzte Operation Artemis nur eine geringe abschreckende Wirkung auf die Milizen haben würde. Die Verfolgung, Bedrohung und Ermordung der Bevölkerung würde sich einfach auf andere Regionen Ituris verlagern. Noch größer war allerdings die Sorge, dass bei einer Eskalation der Situation in Ituri die eigenen Einheiten in einen langwierigen Dschungelkrieg hineingezogen werden könnten.

Mit Ausnahme Frankreichs waren daher nur wenige Staaten bereit, konkrete Zusagen für die Operation Artemis zu machen. Nach wie vor patrouillieren in Bunia ausschließlich französische Soldaten. Näher als das Einsatzhauptquartier auf dem Flughafen im ugandischen Entebbe, 300 km Luftlinie von Bunia entfernt, will sich kaum ein europäischer Staat an den Kongo heran wagen.

Warum also erfolgte diese militärische Uraufführung der EU ausgerechnet im Kongo?

Einerseits lässt sich die Entscheidung des EU-Rates im Kontext des Irak- Krieges interpretieren. Zusehen ist sie insbesondere im Zusammenhang mit dem sogenannten Pralinengipfel in Brüssel und der Präsentation des Entwurfes für eine Europäische Verfassung. Im Wettbewerb mit der NATO um Aufgaben des Krisenmanagements wäre eine erfolgreiche Operation Artemis ein wichtiges Argument für den Aufbau autonomer militärischer Fähigkeiten der EU.

Andererseits spricht einiges dafür, dass Frankreich die EU als Vehikel für die Rückkehr an die Großen Seen instrumentalisiert hat. Die Unterstützung für das Hutu-Regime in Ruanda und für Diktator Mobutu in Zaire in den 90er Jahren hatte Frankreich in der Region politisch wie ökonomisch isoliert. Erst der Machtantritt von Joseph Kabila im Januar 2001 erlaubte eine vorsichtige Wiederannäherung. Paris unterstützte den Friedensprozess und sondierte vor allem seit Anfang 2003 intensiv das Terrain für ein stärkeres Engagement im Kongo. Alles was fehlte war ein Anlass, der es erlaubte auch den diplomatischen Widerstand Ruandas zu überwinden.

Vor dem Hintergrund der andauernden Unruhen in Ituri nutzte Frankreich das Fiasko der MONUC-Mission in Bunia sofort aus. Frankreich schlug UN-Generalsekretär Annan vor, eine schnelle Eingreiftruppe zu entsenden, ausgestattet mit einem "robusten" Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta. Annan präsentierte diesen Vorschlag am 15. Mai dem UN-Sicherheitsrat. Et voilá, der Rest ist bekannt.

Und auch bei näherer Betrachtung entpuppt sich die europäische Mission als französisches Solo. In den Schlüsselpositionen sitzen französische Militärs, der Einfluss des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees der EU auf die Mission bleibt unklar. Vor Ort legt der zuständige Brigadegeneral Thornier das Mandat großzügig aus. Die französischen Patrouillen fuhren gleich in der ersten Woche auch durch die umliegenden Dörfer und nicht nur durch Bunia. In Bunia wurden den Milizen sogar ein Ultimatum gestellt, entweder die Stadt zu verlassen oder sich entwaffnen zu lassen – notfalls mit Gewalt.

Selbst wenn derzeit die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass das französische Vorgehen eine Konfrontation mit den Milizen provoziert, zeigt so ein Gedankenspiel doch die Grenzen der nationalen Entscheidungsspielräume auf. Käme es zu direkten Auseinandersetzungen mit den Milizen wäre eine Aufstockung des EU-Truppenkontingents in Ituri unvermeidbar. Denn ein Scheitern der Mission wäre ein nicht hinnehmbarer Rückschlag für alle Staaten, die sich um eine eigenständige militärische Krisenreaktionsfähigkeit der EU bemühen. Alle, auch die Bundesregierung, müssen sich daher fragen lassen, ob das Verhalten der Franzosen im UN-Sicherheitsrat und ihre Rolle bei Ausarbeitung der Kongo-Einsatzpläne wirklich per se die gemeinsamen europäischen Interessen widerspiegelt. Die Folgen des europäischen Gruppenzwangs konnten schon im Vorfeld beobachtet werden. Auch in Deutschland mutierten vermeintliche Grundpositionen quasi über Nacht zu Glaubensfragen. Zwar versuchte Verteidigungsminister Struck von Anfang an der Sorge entgegenzutreten, dass – so Struck im Bundestag wörtlich - "wir uns auf eine Rutschbahn begeben, an deren Ende wir möglicherweise viel stärker in diesen Konflikt verwickelt werden, als wir es für richtig halten" – doch gleichzeitig wurden mit der Truppenentsendung hierfür die Weichen gestellt.

Denn aus der zunächst nur politischen und finanziellen Unterstützung des EUMilitäreinsatzes wurde innerhalb einer Woche eine verbindliche Truppenzusage Deutschlands: bis zu 350 Soldaten werden an der Durchführung des Lufttransports zwischen Paris und Entebbe beteiligt sein. Das anschließende Versprechen von Verteidigungsminister Struck, dass deutsche Soldaten nur im Notfall und bei einem Evakuierungseinsatz den Kongo betreten werden, wirkt angesichts des französischen Vorgehens in Bunia nicht beruhigend. Am 20. Juni hieß es bei Struck nur noch matt: "Ich glaube nicht, dass deutsche Soldaten als Kampftruppe ins Gebiet gehen werden." Eigentlich sollte ein Verteidigungsminister dies definitiv wissen - erst Recht, wenn durch einen Bundestagsbeschluss die Einsatzaufgaben eindeutig festgelegt worden sind. Vielleicht wird den EU-Staaten noch die Rechnung für ihr bislang sorgloses Verhalten präsentiert. Der UN-Sicherheitsrat hat am 26. Juni das Mandat der MONUC-Mission nur bis Ende Juli verlängert. Damit wird die für Anfang September vorgesehene Ablösung der Artemis-Truppen durch ein MONUCKontingent unter Führung Bangladeschs immer unwahrscheinlicher. Folgt man den üblichen Gedankengängen auf internationalem Parkett, liegt somit eine Verlängerung der europäischen Mission zur Gewährleistung der Sicherheit in Ituri in der Luft.

Insgesamt geben die Umstände des Militäreinsatzes im Kongo nur wenig Anlass, auf eine zukunftsfähige und vernünftige europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu hoffen. Statt die militärische Handlungsfähigkeit der EU zu beschwören, wären die EU-Staaten eigentlich erst einmal verpflichtet gewesen, sorgfältig die europäischen Entscheidungskriterien und Richtlinien für einen Militäreinsatz festzulegen. Man gewinnt den Eindruck, dass das Label "Europa" nur allzu gerne von den Regierungen als Persil-Schein benutzt wird, um sich selber vor der Aufstellung verbindlicher Einsatzkriterien und deren sorgfältiger Überprüfung zu drücken.

Dabei gehört zu einer glaubwürdigen Außen- und Sicherheitspolitik mehr als die Übernahme kurzfristiger militärischer Aufgaben. Doch die EU-Staaten haben die MONUC Mission und den gesamten kongolesischen Friedensprozesses nur bescheiden unterstützt - sowohl personell wie finanziell. Zu befürchten ist allerdings, dass auf diesem Gebiet keine Lehren gezogen werden.

 

   ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei BITS..